Schritte im Schatten (German Edition)
jüdisch. Vier Jahre später, als ich abermals umziehen musste, sollten die billigen Restaurants Griechen gehören. Das jüdische Restaurant war immer voll. Ich nahm eine Menge Leute dorthin mit, aber der, an den ich mich am besten erinnere, ist Mordecai Richler, der mich dazu zu überreden versuchte, gefüllte Hühnerhälse zu mögen, aber ich sagte, was er da esse, müsse nostalgische Erinnerungen an seine Kindheit wecken. Clancy war oft dort. Amerikanische Besucher liebten das Restaurant, weil in jener Zeit ein großer Teil der Leute im Showbusiness und in der Buchbranche Juden waren und aus der Bronx kamen. Und das in einem Ausmaß, dass es, wenn man hörte: »Ich bin in der Bronx aufgewachsen«, wie eine Art Refrain eines Liedes klang oder wie in einem dieser Romane, in denen eine große, arme Familie ums Überleben kämpft, aber die intelligenten Kinder, alle vollgestopft mit Literatur und literarischen Ambitionen, dazu bestimmt sind, zu entkommen und die Welt in Erstaunen zu versetzen. Und die amerikanischen Besucher, die keine Juden waren, sagten, diese Art von gemütlichem Restaurant mit seiner Familienatmosphäre, einst in New York allgegenwärtig, sei jetzt am Verschwinden, und deshalb hätten sie das Gefühl, ihrer eigenen Geschichte einen Besuch abzustatten.
Die Gegend war tagsüber laut und voller Leben, aber nachts verlassen, von ein paar Pubs und einem Restaurant abgesehen, das das Gesetz ausnutzte, dem zufolge Nacktheit dann unmoralisch war, sobald die Nackten sich bewegten, hingegen moralisch nichts einzuwenden sei, wenn sie sich regungslos verharrend einem Publikum präsentierten. Den Kunden wurde Papier und Bleistift ausgehändigt, und sie wurden eingeladen, ihrem künstlerischen Talent zu frönen. Ein nacktes Mädchen wurde hereingekarrt und behielt zwanzig Minuten lang eine Pose bei, danach entfernte man es wieder, während die Speisenden applaudierten und sich gegenseitig ihre Skizzen zeigten, ehe neuerlich ein anderes Mädchen eintraf, nicht selten mit einer Gänsehaut von der Kälte. Die Speisenden wurden aufgefordert, weiterzuzeichnen, denn wenn ein Polizist erschien, um sich zu vergewissern, ob das Mädchen auch wirklich keinen Muskel bewegte, dann bewiesen all diese fliegenden oder zögerlichen Bleistifte künstlerische Absicht. Die Polizei schaute oft herein. Das Restaurant war bei allen Amerikanern ein großer Erfolg. Es ist eine erstaunliche Sache, dass sämtliche Amerikaner, die in den fünfziger und sechziger Jahren London besuchten, sich sofort auf den Weg nach Soho, zu Prostituierten und Nacktclubs, machten. Wenn man sagte, um Gottes willen, ihr habt in euren Großstädten doch massenhaft Prostituierte, dann sagten sie, das sei nicht dasselbe. Die Russen gleichfalls. Jede russische Delegation – dies war die Ära der Delegationen, alle unter der Aufsicht eines Reiseleiters, der in Wirklichkeit vom KGB war – wurde sofort nach Soho geführt, um die kapitalistische Degeneration in Aktion zu sehen, genau wie damals in Moskau das Ballett
Roter Mohn
eine lange und wollüstige Szene in einem kapitalistischen Nachtclub enthalten hatte, um zu zeigen, wie verabscheuungswürdig der Westen war. Im kommunistischen Russland waren solche Genüsse verboten; Prostitution und Sexshows waren nur unter dem Kapitalismus möglich. Die Scharen von Russen auf dem Weg nach Soho waren also nur zu verständlich.
Die Sexclubs in Soho hatten mehr als nur eine Attraktion zu bieten. Nach dem geltenden Schankrecht mussten Orte, an denen man trinken konnte, nachmittags für ein paar Stunden schließen, aber den Clubs war die Abgabe von Alkohol gestattet. Trinker traten einem dieser Clubs bei, wenn sie diese Form von Entbehrung nicht ertragen konnten. Reuben Ship nahm mich in einen dieser Clubs mit, und ich war die einzige Frau im Publikum. Ich saß da und sah mir die Show an, Reuben war an der Bar, mit dem Rücken zur Bühne. Ein Mädchen ist mir im Gedächtnis geblieben: Es war eine Irin, groß und schön und neu im Geschäft. Es wurde von ihr erwartet, dass sie tanzte und dabei ihre Brüste so hüpfen ließ, dass die Quasten an ihren Brustwarzen rotierten. Sie fand das alles jedoch so komisch, dass sie der Versuchung nicht widerstehen konnte, einen Witz daraus zu machen. Es endete damit, dass sie lachend ihre großen, mit Quasten verzierten Brüste auf Händen den Gästen wie Pudding darbot. Die Männer waren ganz und gar nicht erfreut: todernst in ihrer Konzentration und voll von latenter Feindseligkeit,
Weitere Kostenlose Bücher