Schritte im Schatten (German Edition)
Bewegungen, werde ich als Podiumsrednerin für die »Kampagne für atomare Abrüstung« und das »Komitee der Hundert« beschrieben. Ich war es nicht. Es sei denn, die Teilnahme an den Aldermaston-Märschen zählt als aktives Demonstrieren. Natürlich wollte Ralph Schoenman mich als Unterstützerin des »Komitees der Hundert« vereinnahmen.
Ralph dominierte das »Komitee der Hundert«. Er hatte keine offizielle Funktion. Der Grund? Es gab beim Komitee keine Funktionäre, teils, weil man das für »alte Politik« hielt, aber teils auch deshalb, um mögliche Verhaftungen durch die Polizei zu erschweren.
Ralph Schoenman suchte mich auf. Das hört sich recht harmlos an, aber diesem Besuch waren Berichte von Leuten vorausgegangen, bei denen er sich nach der besten Methode erkundigt hatte, an mich heranzukommen. Da saßen wir in diesem hässlichen kleinen Zimmer, wo das Geschrei vom Straßenmarkt vor dem Haus und der Verkehrslärm uns zwangen, das Fenster zu schließen, damit wir uns überhaupt gegenseitig hören konnten. Oder vielmehr, Ralph sagte mit einem strengen Nicken und soldatischem Gehabe: »Ich glaube, es wäre ratsam …«, und stand flott auf, um das Fenster zu schließen. Dann setzte er sich wieder, lehnte sich vor und schaute mir mit einem strengen Blick in die Augen, der mich an frühere Verkörperungen Lenins erinnerte, Lügner aus Prinzip, aber das gab immerhin Anlass zu einer interessanten Frage, die ich mit mir selbst erörterte, während ich mit freundlicher Miene seiner Polemik zuhörte. Nun, er wusste, dass ich genau wusste, was vor sich ging. Rannte er nicht in ganz London herum und brüstete sich damit, dass er Bertrand Russells Briefe nicht nur unterschrieb, sondern oft sogar diktierte? »Er tut, was ich ihm sage.« (Es gibt noch eine Menge Leute, die sich daran erinnern.) Wussten wir nicht, dass, wenn man zu Russell sagte: »Soll ich Ihnen diese Akte bringen … Ihnen ein Glas Wasser holen … diesen Anruf entgegennehmen?«, er zu antworten pflegte: »Nein, das tut Ralph für mich.« Ralph hatte Russell in der Hand – und rühmte sich dessen. Und trotzdem saß Ralph jetzt vor mir, malte ein düsteres Bild von Canon Collins, dem Präsidenten der »Kampagne für atomare Abrüstung«, der, wie er behauptete, Intrigen spann und versuchte, Russell mit schmutzigen Tricks und Schlichen auszubooten, die in Wirklichkeit zum Arsenal kommunistischer Taktiken gehörten – leninistischer Taktiken. Ralph wusste, dass ich wissen musste, dass das, was er sagte, unwahr war, und trotzdem strahlte er Aufrichtigkeit aus, während er log.
Und das bringt mich – und brachte mich damals – zu der Frage: Zählt es als Lüge, wenn der Lügner ganz genau weiß, dass sein Zuhörer weiß, dass er lügt? Wenn sowohl Redner als auch Zuhörer mit dem leninistischen »Arbeitsstil« vertraut sind, der Lügen und alle Arten von schmutzigen Tricks vorschreibt?
Ich saß da, lächelte, grübelte über diese und ähnliche Fragen nach, während Ralph weiterredete.
Wirkliches Lügen, pures und perfektes Lügen, scheint mir in der folgenden Geschichte verkörpert zu sein: In den Siebzigern beschließt eine erfolgreiche Frau in einer leitenden Stellung beim Fernsehen zu heiraten; sie hat das Alter erreicht, in dem es jetzt oder nie heißt, wenn sie Kinder haben will. Ihr begegnet – endlich – der richtige Mann. Sie ist glücklich, sie blüht regelrecht auf. Und kann es kaum fassen, dass sie so problemlos geschafft hat, was ihr unmöglich erschien. Plötzlich ruft sie an, völlig schockiert und in Tränen aufgelöst. Während der ganzen Zeit, seit sie einander gefunden hatten, mehrere Monate lang, hatte es zwischen ihnen die Vereinbarung gegeben, dass sie ihn nicht bei der Arbeit oder in seiner Wohnung anrufen würde. Er würde sie anrufen. Aber es tritt eine Krise ein, und sie ruft an seinem Arbeitsplatz an, aber dort hat man nie von ihm gehört. Sie ruft in dem Mietshaus an, in dem er wohnt; dort kennt ihn niemand. Sie konfrontiert ihn damit. Er ist wütend. »Wir hatten eine Abmachung, dass du mich nie anrufen würdest.«
Sie
ist ins Unrecht gesetzt. Es stellt sich heraus, dass er einen Job hat, einen genauso wichtigen und gut bezahlten, wie er ihr erzählt hat, aber in einer anderen Firma als der, in der er angeblich arbeitete. Er lebt in einer guten Wohnung, in einer guten Gegend von London, aber nicht dort, wo er angeblich wohnte. Sein Leben, sein Status entsprechen genau dem, was er ihr erzählt hat, aber in
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