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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Frauen waren genauso gut wie Männer, nur besser.
    Heute ist nicht damit zu rechnen, dass es zu hitzigen ideologischen Auseinandersetzungen kommt, wenn gesagt wird, dass Männer und Frauen biologisch dazu programmiert sind, unterschiedliche Dinge zu wollen – an der Wurzel ihrer Natur, ganz gleich, wie Zivilisation oder Kultur oder die jeweiligen Moralbegriffe uns zu zähmen beschließen. Es gibt keinen Mann, der nicht von der kurzen Begegnung geträumt hat, in der Emotionen keine Sekunde lang ins Spiel kommen, diesem schnellen Fick ohne irgendwelche Verpflichtungen und auch nicht mit einer Prostituierten. Ich glaube, dahinter steckt irgendeine Fantasie von einem goldenen Zeitalter. Und es gibt keine Frau, deren erste Emotion nicht »Ist das der Mann, nach dem ich suche?« ist, und das sogar, wenn sie beschlossen hat, diese Emotion beiseitezuschieben und einfach ein oder zwei Nächte lang den Spaß zu genießen. Ich bin bereit, darauf zu wetten, dass es keine Frau gibt, die nach einer Nacht, wie sie erfreulicher nicht vorstellbar ist, und sogar wenn keiner den Namen des anderen weiß oder wissen will, wenn er sie verlässt – voller Liebe, Bewunderung und Dankbarkeit für ihren Aplomb –, nicht plötzlich ein dumpfes und leeres Gefühl hat, denn sie hat gegen ihre eigene tiefste Natur gehandelt und muss dafür bezahlen, und sei es auch nur für eine halbe Stunde.
    Wie oft haben Frauen, die mit den ehrlichsten, offenherzigsten Absichten eine Nacht mit einem Mann verbracht haben, sich nicht hinterher dabei ertappt, dass sie fluchten und wüteten: »Du verdammter Kerl! Hättest du nicht wenigstens anrufen können? Kannst du mir nicht einmal ein paar Blumen schicken?« Denn die Blumen würden ausreichen, ein psychisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Und inzwischen denkt der Mann, voller Zuneigung und Glück: Endlich einmal eine Frau, die weiß, wie man das Leben genießt, und nicht fragt: »Liebst du mich wirklich?«
    Die Menschen der Viktorianischen Zeit wussten, was sie zu tun hatten mit ihren verordneten Blumentributen von Mann zu Frau. Ich bin versucht zu sagen, dass sie gerade deshalb so viele Gesetze und Beschränkungen erließen. Romantische Liebe ist das Kind des Verbotenen. Aber lassen wir die romantische Liebe außer Acht, denn es gibt etliche Teile der Welt, in denen es sie überhaupt nicht mehr zu geben scheint. Und schon in den Fünfzigern setzte das Gefühl ein, dass Sex etwas war, das man tun musste, und dass mit Vorwürfen zu rechnen war, wenn man es unterließ.
    Ich wandere mit Donald Ogden Stewart die Church Street hinunter, und wir wollen zusammen essen, auf seinen Vorschlag hin. Er muss an die sechzig sein, ein magerer, kahl werdender, sommersprossiger Mann mit sandfarbenem Haar, und ich bin in den Dreißigern. Er sagt zu mir: »Ich muss dir sagen, dass mich in letzter Zeit Essen mehr interessiert als Sex.« Ich war stinkwütend. Das war so taktlos – aber was hatte ich denn erwartet, und auch noch von einem Amerikaner? Es hatte nie, nicht einmal eine Sekunde lang, auch nur das geringste Anzeichen sexueller Attraktion gegeben, und außerdem war er alt. Heute sehe ich darin eine recht vernünftige (wenn auch taktlose) Art, mit der Situation umzugehen. Schließlich kam er aus Hollywood und der amerikanischen Linken und hatte vermutlich Dutzende von Affären gehabt. Für seine Altersgenossen muss er ein attraktiver Mann gewesen sein. Keinem von uns fällt es leicht zu begreifen, dass wir nicht mehr so attraktiv sind, wie wir einmal waren. Er hatte gedacht: Ich denke nicht daran, während des ganzen Essens dazusitzen, während sie sich fragt, ob ich einen Annäherungsversuch unternehme.
    Ein andermal hatte mich ein hochrangiger Manager von Granada Television zum Essen eingeladen, weil ich für sie schreiben sollte. Er trinkt den ganzen Abend über ziemlich viel. Aber damals tranken alle Leute ziemlich viel; wenn man heutzutage Leute zum Essen oder zu einer Party einlädt, beträgt die Alkoholmenge, die getrunken wird, nur ein Zehntel dessen, was damals konsumiert wurde. Er fährt mich nach Hause und sagt: »Tut mir leid, ich schaffe es nicht mehr. Ich bin zu betrunken.« Und das, obwohl zwischen uns keine Spur von sexuellem Interesse aufgeflackert war. Ich bin wütend. Der Flegel. Der Idiot. Der eingebildete Affe. Die Geschichte
Abgehakt
ist diesem Thema gewidmet.
    Ich blicke zurück und sehe mich, eine direkte, offen auftretende junge Frau, oft taktlos aus einer echten Empörung über das,

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