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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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anderer. 1950 kam jeder, dem ich begegnete, entweder von den Schlachtfeldern in Südostasien oder Europa oder war zugegen gewesen, als die Konzentrationslager befreit wurden, hatte im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft oder als Flüchtling das Grauen irgendwie überlebt. Weil mir in meiner Kindheit die Schützengräben und die Schrecken des Ersten Weltkriegs Tag und Nacht eingehämmert worden waren, empfand ich Jacks Geschichte als eine von vielen grausamen Fortsetzungen des:
Well, what can you expect?
    Wir verstanden uns gut. Wir waren ein Herz und eine Seele. Heute beurteile ich die Situation auf eine Art, die ich damals als »kalt« empfunden hätte. Ich betrachte ein Paar und denke: Passen sie zusammen, gefühlsmäßig, körperlich, geistig? Jack und ich passten auf alle drei Arten zusammen, aber vielleicht vor allem gefühlsmäßig, da uns beiden eine natürliche Veranlagung für das allergrimmigste Verstehen des Lebens und der Ereignisse eigen war, das in seinen weniger tragischen Erscheinungsformen Ironie genannt wird. Es war unsere Situation, nicht unsere Natur, die unvereinbar war. Ich war bereit, mich mit diesem Mann für immer einzurichten. Er war gerade aus dem Krieg zurückgekehrt und hatte festgestellt, dass die Frau, die er viele Jahre zuvor geheiratet hatte, eine Fremde war und seine Kinder ihn kaum kannten.
    Für Psychiater ist es eine Binsenweisheit, dass eine junge Frau, die dem Tod nahe war, sich zu oft die Pulsadern aufgeschnitten hat oder von ihren Eltern bedroht worden ist, Kleider kaufen muss, dass sie regelrecht von Kleidung besessen ist und davon, ihre äußere Erscheinung in Ordnung zu bringen, was auf Beobachter wie sinnlose Verschwendungssucht wirken muss. Es ist das Leben, das sie in Ordnung bringen will.
    Und ein Mann, der jahrelang immer wieder dem Tod um Haaresbreite entgangen ist – wäre Jack in der Tschechoslowakei geblieben, hätte man ihn vermutlich zusammen mit seinen Freunden als Verräter gehenkt, wenn er nicht schon vorher in den Gaskammern umgekommen wäre –, ein solcher Mann wird von hundert machtvollen Bedürfnissen getrieben, mit Frauen zu schlafen, Frauen zu haben, sich des Lebens zu vergewissern, Leben zu zeugen, weiterzuziehen.
    In keinerlei Hinsicht kann ich – oder konnte ich damals – Jack den Vorwurf machen, mich im Stich gelassen zu haben, denn er hat mir nichts versprochen. Im Gegenteil, obwohl er nicht direkt sagte: »Ich schlafe mit anderen Frauen, ich habe nicht die Absicht, dich zu heiraten«, hat er mir das alles doch zu verstehen gegeben. Oft im Scherz. Aber ich habe nicht zugehört. Ich
fühlte
: wenn wir schon in jeder nur erdenklichen Hinsicht so prächtig miteinander auskommen, dann wäre es doch unvernünftig von ihm, mich zu verlassen. Ich war nicht imstande, es zu begreifen. Dazu waren die emotionalen Realitäten zu mächtig. Ich glaube, das ist für Frauen nichts Ungewöhnliches. »Also, dieser Mann redet Unsinn. Er weiß nicht, was das Richtige für ihn ist. Und außerdem sagt er, seine Ehe sei überhaupt keine Ehe mehr. Offensichtlich ist das auch der Fall – schließlich verbringt er die meisten Nächte bei mir.« Hinterher ist man immer klüger.
    Wenn ich Hilfe gegen meine Mutter brauchte, so brauchte ich sie nun auch bald wegen Jack. Er war Psychiater am Maudsley Hospital. Er wollte eigentlich als Neurologe arbeiten, aber als er begann, in England als Arzt zu praktizieren, war die Neurologie die große Mode, und »ein Mann aus einem fernen Land, von dem wir überhaupt nichts wissen«, konnte mit den vielen britischen Ärzten, die auf dieses Fachgebiet drängten, einfach nicht konkurrieren. Also entschied er sich für die damals unmoderne Psychiatrie. Aber kurze Zeit später kam auch sie in Mode. Er war alles andere als ein unkritischer Arzt. Er war kein Anhänger von Freud, und das nicht nur, weil er als Kommunist – oder sogar Exkommunist – praktisch gezwungen war, Freud zu verabscheuen. Er sagte, Freud sei unwissenschaftlich, und das zu einer Zeit, wo abfällige Bemerkungen über Freud gleichbedeutend waren mit abfälligen Bemerkungen über Stalin – oder Gott. Eine meiner lebendigsten Erinnerungen an ihn damals ist, wie er mich nach Oxford zu einem Vortrag von Hans Eysenck mitnahm. Die Zuhörerschaft bestand fast ausschließlich aus Ärzten vom Maudsley, sämtlich Freudianer, und das Thema war die Unwissenschaftlichkeit der Psychoanalyse. Da war er, dieser große, überschwängliche junge Mann mit seinem schwerfälligen

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