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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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verschlungen worden – aber überall in der Sowjetunion und in allen kommunistisch regierten Ländern Osteuropas wurden Juden ermordet, gefoltert, verfolgt, ins Gefängnis geworfen; es war geplanter Völkermord. Aber aus irgendeinem Grund sind Stalins Massenmorde nie so verurteilt worden wie die von Hitler, obwohl Stalins Verbrechen wesentlich größer sind, sowohl zahlenmäßig als auch in ihrer Vielfalt. Pech für diese armen Juden der Jahre 1948 , 1949 , 1950 , 1951 , 1952  – niemand gedenkt ihrer; der vielen Tausend, vielleicht sogar Millionen.
    Moidi wurde von einem Polizisten zur Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland eskortiert; der Polizist weinte – ihm gefiel nicht, was er zu tun gezwungen war.
    Gottfried war inzwischen in Ostberlin gewesen, hatte seine Schwester und ihren Mann (den ewigen Studenten) gefunden, der beim Kulturbund arbeitete, und für sich beschlossen, nach Deutschland zurückzukehren. Er hatte bei der Partei einen formellen Antrag auf Erlaubnis zur Rückkehr gestellt, bekam aber keine Antwort auf seine Briefe. Moidi Jokl erklärte ihm, er habe vom Kommunismus nicht die geringste Ahnung. Alles hänge davon ab, wen man kenne – das wurde später
blat
genannt. Er solle hinfahren, seine Beziehungen ausnutzen, dann habe er eine Chance, bleiben zu dürfen. Aber nicht mehr als eine Chance. Jeder, der aus dem Westen komme, gelte als Feind und Verbrecher und könne ohne Weiteres für immer verschwinden. Noch nie habe ich derartige Schimpfworte gehört: Gottfried verabscheute Moidi. Aber er befolgte ihren Rat, kehrte zurück, nutzte seine Beziehungen und überlebte.
    Und dann war da Peter. Moidi schaute sich die Situation mit Peter, der viel zu oft und stundenlang mit mir in der kleinen Wohnung eingeschlossen war, nicht lange mit an. Sie hatte Freunde, die Eichners, gleichfalls Österreicher, die in der Nähe von East Grinstead lebten. Diese hatten mehrere Kinder und waren sehr arm. Sie wohnten in einem alten Haus auf ein paar Morgen steinigen Landes und nahmen in den Ferien Kinder auf, manchmal bis zu zwanzig, die sich dort alle pudelwohl fühlten. Also begann Peter, einen Teil seiner Zeit, zunächst Tage oder ein Wochenende, später dann auch ein paar Wochen, bei den Eichners zu verbringen. Ich setzte ihn an der Victoria Station in einen Bus, und an der Endstation wurde er zu einem Jungen in einer Horde von Landkindern. Dieses Arrangement hätte weder für ihn noch für mich besser sein können.
    Und dann sah Moidi den Zustand, in dem ich mich wegen der bevorstehenden Ankunft meiner Mutter befand, und sagte, ich solle eine Freundin von ihr aufsuchen, Mrs. Sussman (Mother Sugar im
Goldenen Notizbuch
), denn wenn mir niemand helfe, würde ich nicht überleben. Sie hatte recht. Heutzutage geht jeder zu einem Therapeuten oder ist selbst einer, aber damals tat das niemand. Nicht in England, nur in Amerika, und selbst dort steckte das Phänomen noch in den Kinderschuhen. Und vor allem Kommunisten gingen nicht »zur Analyse«, weil das per definitionem »reaktionär« war oder eigentlich gar keiner Definition bedurfte. Ich war so verzweifelt, dass ich trotzdem hinging, zwei- oder dreimal die Woche, ungefähr drei Jahre lang. Ich glaube, das hat mich gerettet. Der Prozess war voll der absurdesten Anomalien und Ironien – das kommunistische Wort
Widersprüche
erscheint mir zu schwach dafür. Mrs. Sussman war Katholikin und Anhängerin C. G. Jungs. Während mir Jung lag, wie allen künstlerisch Tätigen, hatte ich keinerlei Grund, die Katholiken zu lieben. Sie war Jüdin, und ihr Mann, ein liebenswerter Alter, der an ein Rembrandt-Porträt erinnerte, war jüdischer Gelehrter. Sie war zum Katholizismus übergetreten. Das faszinierte mich, weil es so absurd war, aber sie sagte, mein Wunsch, darüber zu sprechen, sei lediglich ein Anzeichen dafür, dass ich meinen wahren Problemen auswiche. Sie gab lediglich zu verstehen, der Katholizismus habe tiefere und höhere Ebenen des Verstehens, unendlich weit von den Rohheiten des Konvents entfernt. (Und das Judentum hatte diese höheren Ebenen oder Gipfelpunkte nicht? »Ich glaube, wir sprachen gerade über Ihren Vater. Wollen wir weitermachen?«) Mrs. Sussman hatte sich darauf spezialisiert, Künstlern zu helfen, die blockiert waren, die nicht schreiben, malen oder komponieren konnten. Das war es, worin sie ihre Lebensaufgabe sah. Aber ich litt nicht unter einer »Blockade«. Sie wollte über meine Arbeit reden. Ich wollte es nicht. Ich sah keine

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