Schritte im Schatten (German Edition)
deutschen Akzent, der in einem mit den wütendsten Leuten, die ich je erlebt hatte, angefüllten Raum erklärte, dass das Werk ihres Idols Schwachstellen aufwies. (Er hat sein Talent, zu stören, über die Jahre nicht eingebüßt; als ich 1994 ein paar jungen Psychiatern diese Geschichte erzählte, weil ich glaubte, sie würde sie amüsieren, reagierten jene ausgesprochen kühl: »Er ist schon immer ein Spinner gewesen.«) Aber Jack bewunderte Freud. Er wusste, dass die Psychoanalyse auf tönernen Füßen stand. Seine Skepsis schloss Mrs. Sussman mit ein. Wenn Freud unwissenschaftlich war, was war dann zu C. G. Jung zu sagen? Aber ich ging nicht der Ideologie wegen zu Mrs. Sussman, sagte ich. Und außerdem bediente sie sich einer pragmatischen Mixtur aus Freud, Jung, Klein und allem Möglichen, was ihr gerade angemessen schien. Das überzeugte ihn nicht; er sagte, alle Künstler lieben Jung, aber das hat nichts mit Wissenschaft zu tun, weshalb gehst du nicht einfach los und hörst dir Vorträge über griechische Mythologie an? Das läuft auf dasselbe hinaus. Meine »jungianischen« Träume beeindruckten ihn nicht. Noch weniger zeigte er sich beeindruckt, als ich anfing, »freudianische« Träume zu träumen. Mir war selbst nicht wohl dabei. Ich träumte auf Befehl. Mir braucht niemand etwas von dem Einfluss zu erzählen, den ein Therapeut auf einen verwirrten, verängstigten Menschen hat, der um Erleuchtung fleht. Man hat diesen Mentor zu erfreuen, der für einen – halb Mutter, halb Vater – im Besitz allen Wissens ist, der so mächtig auf diesem Stuhl dort sitzt. »So, meine Liebe, und was können Sie mir heute erzählen?«
Es gab Dinge, die ich Jack nicht zu erzählen wagte. Zum Beispiel über jenen Tag, als Mrs. Sussman, nachdem ein paar Minuten lang nichts gesagt worden war, bemerkte: »Sie wissen doch bestimmt, dass wir miteinander kommunizieren, auch wenn wir nichts sagen.« Diese Bemerkung war zu jener Zeit einfach lächerlich. Soweit es sie und ihre Arbeit betraf, war ich Kommunistin und deshalb verpflichtet, Gedanken dieser Art als »mystischen Unsinn« abzulehnen. Sie redete nicht über Körpersprache – dieser Ausdruck und die Fähigkeiten, Posen, Gesten und dergleichen zu interpretieren, entstanden erst viel später. Sie bezog sich auf den Gedankenaustausch. Sobald sie es gesagt hatte, dachte ich: Also, ja … und akzeptierte diese ketzerische Idee, als wäre sie mein Geburtsrecht. Aber das zu Jack zu sagen? Er mochte jetzt zwar unter Qualen – und für ihn muss es qualvoll gewesen sein – dem Kommunismus kritisch gegenüberstehen, aber er war trotzdem Marxist, und »mystische« Ideen waren schlicht und ergreifend unzulässig.
Jack machte mir Vorwürfe, weil ich überhaupt zu Mrs. Sussman ging. Er sagte, ich sei jetzt ein großes Mädchen, und ich solle meiner Mutter einfach sagen, sie solle verschwinden und ihr eigenes Leben leben. Sie war doch gesund, oder? Sie war kräftig? Sie hatte genügend Geld, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten?
Die Situation meiner Mutter bereitete mir tiefe Qual. Sie vegetierte auf jämmerliche Art in einem hässlichen kleinen Vorort bei George Laws, einem entfernten Cousin meines Vaters, vor sich hin. Er war alt und invalid. Beide hatten nichts miteinander gemein. Sie setzte mich ständig unter Druck, hatte kein Geld, wollte bei mir einziehen. Woanders konnte sie nicht hin. Sie fand die Familie ihres Bruders – er selbst war gestorben – so unausstehlich wie eh und je. Der gesunde Menschenverstand, erklärte sie immer wieder, verlange, dass wir uns eine Wohnung und die Ausgaben teilten, und außerdem bräuchte ich Hilfe mit Peter. Die einzige ihr noch verbliebene Daseinsberechtigung, sagte sie, sei, mir mit Peter zu helfen. Manchmal holte sie Peter übers Wochenende zu sich oder machte Ausflüge mit ihm. Von einem dieser Ausflüge, auf die Isle of Wight, kam er getauft zurück. Sie teilte mir mit, das sei ganz einfach ihre Pflicht gewesen. Ich stellte sie nicht einmal zur Rede. Das hatte noch nie Sinn gehabt. Und natürlich war es sehr schön für mich, wenn ich drei Tage mit Jack verreisen konnte. Zu dieser Zeit zog sie in der Church Street ein, wo die Treppe fast über ihre Kräfte ging. Joan hatte nichts gegen meine Mutter; sie sagte lediglich: »Sie ist eine typische Matrone der Mittelschicht, das ist alles.« Ebenso wenig hatte ich etwas gegen ihre Mutter, mit der auszukommen Joan sehr schwer fiel. Ich konnte mir deren Geschichten voll von
Weitere Kostenlose Bücher