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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Veranlassung dazu. Also war sie ständig frustriert, wenn sie das Thema zur Sprache brachte und ich nicht darauf einging. Mrs. Sussman war eine kultivierte, zivilisierte, kluge alte Frau, die mir gab, was ich brauchte, nämlich Beistand. Vor allem Beistand gegen meine Mutter. Als die Bedrängnisse kamen, alle unerträglich, weil meine Mutter so mitleiderregend war, so einsam, und mich ständig emotional zu erpressen versuchte – völlig unbewusst, denn es war ihre Lage, die mich unterminierte –, sagte Mrs. Sussman einfach: »Wenn Sie jetzt nicht hart bleiben, dann bedeutet das Ihr Ende. Und auch das Ende von Peter.«
    Meine Mutter war … aber ich habe vergessen, welcher Archetyp meine Mutter war. Sie war einer, das weiß ich noch. Mrs. Sussman beendete oft eine Unterhaltung mit den Worten: Er, sie ist dieser oder jener Archetyp … jedenfalls zu einem bestimmten Zeitpunkt. Ich zum Beispiel war zu unterschiedlichen Zeiten Elektra, Antigone, Medea. Das Problem war nur, dass mich die Idee der Archetypen, dieser majestätischen, unvergänglichen Gestalten, die aus der Literatur und den Mythen aufragen wie durch die Natur aus Felsen und Bergen geschaffene Steinfiguren, zwar instinktiv glücklich machte, ich aber die Etiketten hasste. Unglücklich mit dem Kommunismus, war ich am unglücklichsten über dessen Sprache, die Etikettierung vor allem und die rachsüchtigen oder automatischen Stereotype, und hier waren noch mehr davon, ob sie nun romantisch als »Archetypen« beschrieben wurden oder nicht. Ich begriff nicht, weshalb sie meine Kritik störte, denn ihr gefielen die Träume, die ich ihr »brachte«. Psychotherapeuten sind wie Ärzte und Krankenschwestern, die ihre Patienten wie Kinder behandeln: »Nur ein Löffelchen voll
für mich
.« – »Zeigen Sie
mir
Ihre Zunge.« Wenn wir einen Traum haben, dann »für« den Therapeuten. Ich schwöre, nach einer Weile habe ich Träume geträumt, nur um ihr einen Gefallen zu tun. Aber bei unserer allerersten Sitzung hatte sie nach Träumen gefragt, vor allem nach den immer wiederkehrenden, und ihr gefielen mein alter Echsen-Traum und auch die Träume, die ich von meinem Vater hatte, der, zu flach in einem Wald begraben, aus seinem Grab hervorkommen oder Wölfe anziehen würde, die von den Bergen herabkamen und ihn ausgruben. »Das sind typisch jungianische Träume«, pflegte sie zu sagen, mit vor Freude leicht gerötetem Gesicht. »Manchmal dauert es Jahre, bis jemand auf diesem Niveau träumt.« Während »jungianische« Träume meine nächtliche Landschaft gewesen waren, hatte ich, soweit ich mich zurückerinnern kann, niemals »freudianische« Träume gehabt. Sie sagte, sie benutze Freud, wenn es angebracht sei, und das war, soweit ich es begriff, wenn sich der Patient noch auf einer sehr niedrigen Ebene der Individuation befand. Sie ließ keinen Zweifel daran, auf welcher Ebene ich mich ihrer Meinung nach befand. [2]
    »Jungianische Träume« – wundervoll, diese Schichten aus uralter gemeinsamer Erfahrung, aber was nützten sie mir, wenn ich mich bei der Nachricht von der bevorstehenden Ankunft meiner Mutter mit der Decke über dem Kopf ins Bett legen musste? Hier war ich, hier bin ich, Mrs. Sussman. Machen Sie mit mir, was Sie wollen, aber, um Gottes willen, kurieren Sie mich.
    Ich brauchte auch noch aus anderen Gründen Hilfe.
    Einer davon war mein Geliebter. Eines Abends schlug Moidi Jokl vor, dass ich sie auf eine Party begleitete, und dort lernte ich einen Mann kennen, von dem ich damals glaubte, es wäre mein Schicksal, mit ihm zu leben, ihn zu halten und mit ihm glücklich zu sein.
    Ja, er hatte einen Namen. Aber da ist wie immer das Problem der Kinder und Enkelkinder. Seit
Unter der Haut
erschienen ist, bin ich nicht wenigen Kindern und Enkelkindern meiner alten Gefährten aus diesen längst vergangenen Zeiten begegnet und musste erfahren, dass die Ansichten von Zeitgenossen übereinander nicht unbedingt auch diejenigen ihrer Kinder sind. Ganze Abschnitte im Leben eines Vaters, ganz zu schweigen von dem eines Großvaters, können ihnen unbekannt sein. Und weshalb auch nicht? Kinder sind nicht die Eigentümer des Lebens ihrer Eltern, obwohl sie – und auch ich – neidvoll darüber nachgrübeln, als enthielte es den Schlüssel zu ihrem eigenen Leben.
    Ich sage zu einem reizenden jungen Mann, der zum Lunch gekommen ist, um mit mir über seinen Vater zu sprechen: »Als James in den Minen auf dem Rand gearbeitet hat …«
    »Oh, ich bin sicher, dass

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