Schritte im Schatten (German Edition)
Jammer und Selbstmitleid leidenschaftslos anhören. Es war die Geschichte von einem schönen jüdischen Mädchen aus dem armen East End von London, das zwischen Künstlern und Schriftstellern überlebt hatte.
Jack sagte, ich solle meiner Mutter einfach ein für alle Mal energisch die Meinung sagen.
Joan unterzog sich gleichfalls einer Psychotherapie – ein ach so unschuldiges Wort. Einer der vielen erfolglosen Versuche hatte damit geendet, dass sie von einer Sitzung zurückkehrte und sagte, ein Mann, der einen so erbärmlichen Kunstgeschmack habe und dessen Haus nach totgekochtem Kohl rieche, könne unmöglich etwas über die menschliche Seele wissen. Das war, wie so viele schmerzhafte Dinge, für ein oder zwei Lacher gut.
Joan sah ihr Hauptproblem in der Unfähigkeit, sich für eines ihrer zahlreichen Talente zu entscheiden. Sie hatte Talent zum Zeichnen. Manche verglichen sie mit Käthe Kollwitz. Das war, bevor die Kollwitz vom künstlerischen Establishment akzeptiert worden war. Sie tanzte gut. Sie hatte professionell Theater gespielt. Sie schrieb gut. Vielleicht hatte sie ganz einfach zu viele Talente. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund konnte sie sich nicht auf eine ihrer Fertigkeiten konzentrieren. Und hier war ich, in ihrem Haus, hatte drei Bücher veröffentlicht, erhielt gute Kritiken. Sie kritisierte Jack und natürlich mich, wegen der Art, wie ich Peter aufzog. Ich war zu lax, zu nachsichtig, behandelte ihn wie einen Erwachsenen. Es reichte eben nicht, dass ich ihm vorlas und Geschichten erzählte, er brauchte – ja, was? Ich dachte, sie kritisierte mich wegen ihrer Unzufriedenheit hinsichtlich ihres eigenen Sohnes, denn keine Frau kann, ohne sich benachteiligt zu fühlen, einen Sohn ohne die Anwesenheit des Vaters großziehen. Darüber hinaus war ich zu sehr Frau aus den Kolonien, ungeschliffen, was das für sie vielleicht Schwerwiegendste war. Ein Beispiel: Ich habe Leute sonntags zum Lunch eingeladen, und zu dem Essen, das ich vorbereite, gehören hart gekochte Eier im Wurst- und Teigmantel, ein fester Bestandteil des Speisezettels im südlichen Afrika. Sie steht da und betrachtet die Eier angewidert.
»Warum?«
, will sie wissen. »Es gibt doch ein Stück die Straße hinunter ein vorzügliches Feinkostgeschäft?« Sie kritisierte mich – so jedenfalls empfand ich es – wegen allem und jedem. Dieses Kritisieren anderer Menschen markierte die Kehrseite ihrer wunderbaren Freundlichkeit und Großzügigkeit. Beides ging bei ihr Hand in Hand. Und war nichts im Vergleich zu der Kritik, mit der sie sich selbst bedachte.
Um dem Druck dieser ständigen Missfallensbekundungen standhalten zu können, begann ich defensiver und kühler zu werden. Die Situation mit meiner Mutter schien sich zu wiederholen. Das alles bestimmte auch die Sitzungen bei Mrs. Sussman, die sich dann Berichte über dieselben Vorfälle von Joan und mir anhören musste und uns beiden zu helfen versuchte. Keine leichte Aufgabe. Eines Nachmittags kam Joan die Treppe heraufgerannt und beschuldigte mich, sie über einen Klippenrand in die Tiefe gestürzt zu haben.
»Wie bitte?«
»Ich habe geträumt, du hättest mich über den Klippenrand gestoßen.«
Als ich das Mrs. Sussman erzählte, sagte sie: »Dann haben Sie sie tatsächlich hinuntergestoßen.«
Joan war nicht imstande zu erkennen, dass ich das Gefühl hatte, von ihr überwältigt zu werden, einzig und allein aus dem Grund, weil ich sie bewunderte. Sie war, was Eleganz, Selbstvertrauen und allgemeine Welterfahrenheit anging, alles, was ich nicht war. Und Jahre später, als ich ihr erzählte, dass ich sie so gesehen hatte, konnte sie es einfach nicht glauben.
Jack sah in ihr eine Rivalin – jedenfalls hatte ich diesen Eindruck –, denn wenn sie mich kritisierte, dann kritisierte er sie. »Weshalb siehst du nicht zu, dass du eine Wohnung für dich allein bekommst? Wozu brauchst du eine Mutterfigur?« Er begriff nicht, dass mein Wohnen in Joans Haus mich vor meiner Mutter schützte, und ebenso wenig, dass es für Peter ideal war.
Jack war der Überzeugung, dass ich Peter zu sehr behütete. Er hatte kein gutes Verhältnis zu seinem eigenen Sohn und erklärte rundheraus, dass er nicht daran denke, Peter ein Vater zu sein.
Das war vielleicht das Schlimmste an dieser Zeit. Ich wusste, wie sehr Peter sich nach einem Vater sehnte, und ich musste zusehen, wie dieser kleine Junge, der jedermann gegenüber so offen und zutraulich war, zu Jack rannte und die Arme
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