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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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aufgewachsen war. Sam hat diesen Ausflug vergessen, aber für mich ist er eine meiner lebendigsten Erinnerungen an diese ersten Jahre in London. Er zeigte mir eine Kultur, die im Sterben lag, was er zutiefst bedauerte, weil sie von so viel Mut und Zusammengehörigkeitsgefühl geprägt war. Sam hat ein abwechslungsreiches Leben gehabt, vielleicht sollte man sagen, viele Leben, eines davon als »der Balliol-Marxist«. Manchmal begegnen wir uns, wenn er über Hampstead Heath eilt und ich dort gemächlich spazieren gehe. Wir tauschen Erinnerungen aus: Ich erinnere mich an dieses, er erinnert sich an jenes – zum Beispiel daran, dass Peter oft das Wochenende bei ihm verbrachte und mit seiner Tochter Sabrina spielte. Jetzt hilft er den Leuten aus Bangladesch, die in den Straßen wohnen, in denen er aufgewachsen ist. Die Leute aus Bangladesch in Ostlondon sind auch Leute mit einem Buch, aber aus irgendeinem Grund bewirkt ihr Buch nicht das, was das Buch der Juden für die Juden bewirkt hat, das leidenschaftlich polemische, intellektuelle, kluge Leute hervorbrachte, die imstande waren, sich über ihre Armut zu erheben und der Gelehrsamkeit, dem Geschäftswesen und den Künsten neue Impulse zu geben. Diese Kinder hören nicht Väter, Mütter, Onkel und ältere Brüder über Religion, Politik und Literatur diskutieren; sie hören keine Gedichte und Bruchstücke aus großen Romanen, die zur Untermauerung von Argumenten herangezogen werden. Wenn sie zur Schule gehen, sind sie keine glänzenden Schüler wie die Juden, die vor ihnen in diesen Straßen gelebt haben.
    Einer der Gründe, weshalb es manchen Leuten schwerfiel, die Partei zu verlassen, war genau der, dass sie so viele interessante, außerordentliche Menschen beherbergte. Gute Menschen, großzügig, freundlich, intelligent.
    Ich will zwei von den vielen erwähnen. Einmal, als ich so knapp bei Kasse war, dass ich weder ein noch aus wusste und glaubte, den Versuch, von meinen Einkünften zu leben, aufgeben und irgendeinen Job annehmen zu müssen, bekam ich aus heiterem Himmel einen Brief von Leuten, die ich nicht kannte, Kommunisten. Sie schrieben, sie hätten gehört, dass ich in finanziellen Schwierigkeiten sei, und weil meine Bücher ihnen gefielen, legten sie 100  Pfund bei. Das war damals sehr viel Geld. Sie wollten nicht, dass ich es ihnen zurückzahlte, schrieben aber, sie würden sich freuen, wenn ich das Geld, sobald es mir wieder besser gehe, jemand anderem mit derselben Bitte schickte, der es ebenso notwendig brauche wie ich heute, um damit später seinerseits einem Bedürftigen zu helfen. Ich werde diesen Leuten, die ich nie kennengelernt habe, auf ewig dankbar sein.
    Kurze Zeit später, als mir das Klassensystem mit seinen Schranken schier die Luft zum Atmen zu nehmen drohte, bat ich die Kommunistische Partei, für mich einen Besuch in einem Bergarbeiterdorf zu arrangieren. Ich empfand dieses Dorf, Armsthorpe in der Nähe von Doncaster, als schmutzig und deprimierend, obwohl es erst kürzlich erbaut worden war und die dort wohnenden Menschen sich gegenüber denen, die in den älteren Dörfern lebten, glücklich schätzten. Ein Bergmann, seine Frau, drei halbwüchsige Kinder; er war seit vielen Jahren Kommunist, sie ebenfalls; ein Haus, angefüllt mit Büchern. In den anderen Häusern des Dorfes habe ich keine Bücher gesehen. Sie hörten viel Radio, erzählten, wie Sybil Thorndike mit einer Theatertruppe gekommen war und mitten im Krieg vor den Bergarbeitern Shakespeare gespielt hatte. Jeder im Dorf erinnerte sich daran. Mein Gastgeber und seine Frau hatten vor dem Massentourismus die Sowjetunion und andere kommunistische Länder besucht. Sie waren die einzigen weit gereisten Leute im Dorf. Er war eine Vaterfigur, eine Art Respektsperson; ständig erschienen Leute, die ihn um Rat fragten. Alles, was er über die Bergarbeiter, über England, über sein Leben erzählte – die übliche Geschichte von bitterer Armut in den zwanziger und dreißiger Jahren –, war voll von Informationen und geprägt vom gesunden Menschenverstand. Alles, was er über die Sowjetunion und die kommunistische Welt behauptete, war völliger Unsinn. Hätte man diesem Mann gesagt: Was du so sehr bewunderst, ist eine Illusion und Stalin ein Ungeheuer, hätte das in ihm seine Hoffnung, seinen Glauben an die Menschheit getötet. Diese Art Dichotomie, auf der einen Seite alles, was vernünftig und ehrlich klang, und auf der anderen ein Trugbild aus Lügen, war damals weit verbreitet.
    In

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