Schritte im Schatten (German Edition)
Krieg oder aus schlimmen Zeiten kennt, diese bittere Trunkenheit, die mit tiefer seelischer Not einhergeht. Da sagte ich zu mir: Das reicht, hör auf, dich selbst zu quälen. Wer drückt schon seine Nase freiwillig in das eigene Erbrochene. Was nützt es mir oder den Deutschen? Jahrzehntelang kehrte ich nicht nach Deutschland zurück. Und dann hatte Deutschland sich wiedervereinigt, diese Landschaft des Elends und der Zerstörung sich verflüchtigt. Bitte, Gott, für immer.
Und jetzt muss ich über den vermutlich neurotischsten Akt meines ganzen Lebens berichten. Ich beschloss, in die Kommunistische Partei einzutreten. Und das zu einer Zeit, wo mich »Zweifel« wie eine eigens von mir für mich verordnete Qual heimsuchten. Die Sowjetunion und ihre verschiedenen Gesichter des Grauens wurden quasi hinter vorgehaltener Hand diskutiert. Ich erinnere mich an keine einzige ernsthafte und tiefergehende Diskussion über die Bedeutung dessen, was uns zu Ohren kam. Dafür erinnere ich plötzliche Tränenausbrüche, allerheftigste Beschuldigungen, Ehestreitigkeiten, ja sogar Scheidungen.
Es gibt Leute, die sich beschweren, dass alte Rote »nur versuchen, sich zu rechtfertigen«. Sie sind fast alle noch jung, denn die Älteren verstehen sehr genau, weshalb es damals quasi natürlich war, Kommunist zu sein. Erklären, »Zeugnis ablegen«, ist nicht gleichbedeutend mit Rechtfertigen.
Es war paradox. In ganz Europa, bis zu einem gewissen Grad auch in den Vereinigten Staaten, waren es gerade die empfindsamsten, die mitfühlendsten, sozial am stärksten sich engagierenden Menschen, die Kommunisten wurden. (Unter ihnen gab es auch einen ganz andersgearteten Typ, die Machtbesessenen.) Diese hochanständigen und ehrenwerten Menschen unterstützten die schlimmste und brutalste Tyrannei unserer Zeit. Hitlers Deutschland, das dreizehn Jahre bestand, war in Sachen Terror im Vergleich zu Stalins Regime ein Waisenknabe – und, nein, ich lasse den Holocaust nicht außer Acht.
Das erste und wichtigste, die »Grundfigur« jener Zeit, war die Überzeugung, dass man es als gegeben ansah, dass der Kapitalismus zum Untergang verurteilt war und in den letzten Zügen lag. Er war, den Krieg eingeschlossen, verantwortlich für sämtliche gesellschaftlichen Übel. Der Kommunismus hingegen war die Zukunft der gesamten Menschheit. Ich habe eifrige Proselyten oft sagen hören: »Gebt mir irgendjemanden nur für ein paar Stunden, und ich überzeuge ihn davon, dass der Kommunismus die einzige Antwort ist, weil das einfach auf der Hand liegt.« Die Hände der Kommunisten waren nicht gerade sauber. Oder, um es in der Sprache der Genossen zu formulieren: »Es sind Fehler gemacht worden.« Der Grund? Das erste kommunistische Land war das rückständige Russland; wäre als erstes Land Deutschland kommunistisch geworden, die Dinge hätten völlig anders gelegen! (Die Tatsache, dass die Sowjetunion das älteste und erfolgreichste Imperium der Welt beerbt hatte, war buchstäblich jahrzehnteweit davon entfernt, registriert zu werden.) Bald, wenn die industriell hoch entwickelten Länder kommunistisch geworden wären, würden wir eine völlig andere Art von Kommunismus kennenlernen.
Ich bin versucht gewesen, ein Kapitel unter der Überschrift »Politik« zu schreiben, damit Leute, die das ganze Thema langweilig finden, es überspringen können. Aber Politik durchdrang damals nun mal alles. Der Kalte Krieg war ein giftiges Miasma. Es ist von der Gegenwart aus äußerst schwierig, eine Denkweise zu erklären, die ich heute für verrückt halte. Spielt es eine Rolle, ob eine Frau dieser Verrücktheit erlag? Nein. Aber ich spreche von einer ganzen Generation, die Teil einer Art von sozialer Psychose oder Selbsthypnose der Massen war. Ich versuche nicht, das zu rechtfertigen, wenn ich sage, dass ich heute glaube, dass alle Massenbewegungen, religiöse ebenso wie politische, eine Art Massenhysterie sind und dass ein oder zwei Generationen später die Leute sagen müssen: Aber wie
konntet
ihr nur glauben – was immer es gewesen ist.
Glauben – das ist das entscheidende Wort. Alles drehte sich um eine religiöse Grundfigur, identisch mit der der
wahren
Gläubigen einer Glaubensrichtung. Arthur Koestler und andere schrieben ein Buch mit dem Titel
Ein Gott, der keiner war
. Heute gilt es als Binsenweisheit, wenn man sagt, der Kommunismus ist eine Religion. Aber es genügt nicht, diesen Satz auszusprechen, man muss ihn auch verstehen. Was der Kommunismus erbte,
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