Schritte im Schatten (German Edition)
durchsuchen würde, aber das spielte für uns keine Rolle, wir kamen aus dem Westen, und uns betraf das nicht. Wir sahen uns nicht als nützliche Werkzeuge des KGB . Zu Recht, wie sich herausstellte, obwohl sie sich gefreut hätten, wenn wir ihre Werkzeuge geworden wären – schließlich gab es genügend Leute, die es geworden sind. Von ihrer Warte aus waren wir die erste Delegation von »Intellektuellen« aus dem Westen nach dem Krieg, dem »Großen Vaterländischen Krieg« – ein Ausdruck, der uns Unbehagen bereitete und noch deutlicher machte, wie sehr sich unsere Ansichten von den ihren unterschieden –, und mussten verwöhnt und gehätschelt werden.
Hinter den Russen lag das Grauen der von Stalin bewusst ausgelösten Großen Hungersnot, die Säuberungen, die Gulags, die fürchterlichen Verheerungen des Krieges, das Hinmorden der Juden in den Schwarzen Jahren – die noch nicht vorüber waren –, unvorstellbare Ungerechtigkeiten, Qualen, Morde, Folterungen. Während ich dies schreibe, lese ich, dass die kürzlich entdeckten und eingestandenen Massengräber angelegt wurden, weil man Stalin, der ständig Hunderttausende seiner Landsleute einkerkerte, erklärt hatte, die Gefängnisse seien überfüllt; er war nicht geneigt, Geld für den Bau neuer Gefängnisse zu vergeuden, und löste das Problem, indem er die Gefangenen erschießen ließ und wieder von vorn anfing. Hinter den Russen, denen wir begegneten, lag diese Geschichte. Und Stalin war noch am Leben und beobachtete wie die Spinne im Netz von seinem Kreml aus alles, was vor sich ging. Was wir damals nicht wussten: Stalin las alles, was publiziert wurde – Romane, Erzählungen, Gedichte, sämtliche Theaterstücke und Filmdrehbücher. Er hatte dafür gesorgt, dass Lieder geschrieben wurden, mit exakt vorgeschriebenen Worten, die für die verschiedenen Stadien des Krieges und sogar für einzelne Schlachten geeignet waren. Er war ganz eindeutig davon überzeugt, dass der Künstler der Ingenieur der menschlichen Seele ist – jedenfalls wurde er ständig mit diesen Worten zitiert. Die Öffnung der sowjetischen Archive hat keinerlei Zweifel am Charakter des lieben »Uncle Joe« gelassen.
Wir Gäste müssen ihnen vorgekommen sein wie nicht sonderlich intelligente Kinder. Ich habe mich oft gefragt, ob dieser Besuch zu Bemerkungen beigetragen hat wie: »Die Kommunisten im Westen und ihre Mitläufer sind wie naive Kinder, und wenn die sowjetischen Panzer über sie hinwegrollen, werden sie ›Willkommen, willkommen‹ rufen.« Nein, die immer noch Ahnungslosen würden rufen: »Aber, Genossen, stoppt eure Panzer, ihr macht einen furchtbaren Fehler, und ihr beschmutzt den glorreichen Namen des Kommunismus.« Noch in den sechziger Jahren wurde ein Jude aus Israel, kein Kommunist, aber ein Labour-Linker, in Prag verhaftet, ins Gefängnis geworfen und angeklagt, ein faschistisch-zionistischer Agent des internationalen Imperialismus zu sein, was entschlüsselt nichts anderes bedeutete als »Jude«. Als er im Gefängnis saß, beschwor er seine Folterer: »Genossen, wie könnt ihr die Hände der Arbeiterklasse auf diese Weise beschmutzen, wie könnt ihr euch selbst und alle anständigen Menschen in der Welt durch ein derartiges Verhalten so schaden?«
Unser erster offizieller Termin fand an einem langen Tisch in einem unpersönlichen Raum statt. Es waren ungefähr zwanzig Leute anwesend. Surkow eröffnete die Sitzung mit einer wortreichen offiziellen Rede, die den Tenor für alle folgenden Reden lieferte.
Die Kluft zwischen den sowjetischen Schriftstellern – oder vielmehr der offiziellen Parteilinie – und der britischen Delegation war unüberbrückbar. Das war von der ersten Rede an offensichtlich, und im weiteren Verlauf des Besuches wurde diese Kluft nicht schmaler, sondern eher noch größer.
Naomi hielt die Eröffnungsrede auf unserer Seite. Sie war eine Frau in mittleren Jahren, die an einen freundlichen Terrier erinnerte, und sie sagte, sie sei in den zwanziger Jahren in Moskau gewesen und habe dort die wundervollste Liebesaffäre gehabt. Weshalb denn jetzt die Sowjetunion so feindselig auf die freie Liebe reagiere? Sie erinnerte daran, dass sie mit ihrem Geliebten nackt in der Moskwa gebadet und eine herrliche Zeit verlebt habe. Einst sei die Sowjetunion in Sachen Liebe ein Leitstern des Fortschritts gewesen, aber »ihr seid alle so reaktionär geworden«. Es versteht sich von selbst, dass Arnold und ich vor Scham und Verlegenheit erröteten. Der
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