Schroders Schweigen
Wörter hatte ich schon immer geliebt. Meine ersten Erfahrungen beim Englischlernen befriedigten mich, wenn mich schon sonst nichts befriedigte, gerade durch die interessanten Gleichklänge mit dem Deutschen. Und so flocht ich fast nebenbei ein paar Fremdwörter aus dem Spanischen, Japanischen, ja sogar aus meiner verschütteten Muttersprache ein. Sie merkte sich jedes Wort. Man warf ihr irgendetwas entgegen, und es blieb hängen. Natürlich fragte ich mich, wozu sie wohl sonst noch in der Lage sein könnte.
A-B-C-D-E-F-G.
Eines Tages setzte ich sie mit einem Stapel altem Clebus-Briefpapier und ein paar angespitzten Bleistiften hin.
»Dies«, begann ich, »ist ein A. Der Klang« (sagte ich) »des A ist ah oder ein kürzerer Ton wie in Katze .«
» Aaah « , sagte sie. »Kann ich einen Keks bekommen?«
»Klar kannst du. Sobald wir hiermit fertig sind. B . B klingt wie Buh. Buh .«
»Buh.«
»Was gibt es noch für Wörter, die mit dem Klang von Buh anfangen?«
»Hamburger«, sagte sie.
»Nicht schlecht. Versuch’s noch mal.«
»Biene.«
»Biene! Ja! Biene!«
H-I-J-K-L-M-N-O-P.
Und als der Herbst vorbei war, konnte sie lesen. Sie war drei Jahre alt.
Darf ich jetzt zugeben, dass mir auch mal der ein oder andere Fehler unterlief? Klar. Kann ich jetzt offen sagen, dass sie unter meiner Obhut auch ein paar Schrammen davontrug? Dass ich sie zweimal im Grand Union aus den Augen verlor – ich musste ja auch einkaufen – und sie per Lautsprecher ausrufen lassen musste? Dass wir einmal Besuch von der Feuerwehr hatten, weil wir im Namen der Wissenschaft etwas nicht ganz so Schlaues mit dem Rauchmelder ausprobiert haben? Aber wofür ich mich niemals entschuldigen werde, ist, dass ich ihr Lesen beigebracht habe.
Frag sie; sie wird es dir sagen. Wir hatten Spaß , wir beide. Unsere Tage waren randvoll. Ich fand mich allmählich hinein in die Kindererziehung. Ich war nicht mehr verbittert wegen des kaputten Immobilienmarkts oder weil ich nichts mehr verdiente. Ich ertrug die einzigartige Schmach, meine Frau um Taschengeld zu bitten. Ich hatte sogar unter einem Rasen aus Rechnungen mein Manuskript ausgegraben und nahm – während Meadow Mittagsschlaf machte – mein Forschungsprojekt wieder auf. Und all das hätte gut sein müssen, wäre da nicht ein klitzekleines Problem gewesen.
Q-R-S-T-U-V-W-X-Y und Z.
»Wo habt ihr gesteckt ?«, sagtest du, und dein Gesicht war buchstäblich schweißgebadet, als du aus der Wohnung und hinaus auf den Balkon tratst. »Ich bin außer mir, Eric! Seit zwei Stunden laufe ich hier auf und ab. Seit zwei Stunden! Es dunkel. Es ist No vem ber.« Du knietest dich hin und tastetest deine Tochter ab, was sie zum Lachen brachte. Sie war in ihren Parka eingemummelt, die Kapuze zusammengezurrt ums Gesicht. Ich war verwirrt. Warum sollte es ihr nicht gutgehen?
Du blicktest zu mir hoch. »Weißt du überhaupt, wie spät es ist, Eric?«
»Wir haben wohl einfach die Zeit vergessen, Schatz. Tut uns leid.«
»Tut uns leid? Sie ist nicht dafür verantwortlich, dass ihr beide rechtzeitig nach Hause kommt. Herrgott noch mal. Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Hättest du nicht mal anrufen können? Hättest du nicht einen Zettel dalassen können? Armes kleines Nüsschen. Ist dir kalt? Wo wart ihr denn?«
»In der Bibiliothek«, sagte Meadow hinter ihrem Schal.
Seufzend knicktest du ein. Als Lehrerin konntest du gegen einen Bibliotheksbesuch natürlich nichts sagen.
»Jetzt kommt schon rein«, sagtest du und schobst uns in die Wohnung, die in goldenes Licht getaucht war. »Ihr beide macht mich krank vor Sorge.«
Im Laufe des Winters kam es zu diversen Variationen dieses Gesprächs. Deine offenkundige Verzweiflung über mein Zeitmanagement, meine mangelnde Planung etc. entging mir nicht, aber was mich betraf, war ich ein zuverlässiger Betreuer – ein kräftig gebauter Mann, mehrsprachig, ein guter Problemlöser –, also wozu die Aufregung? Soweit ich sehen konnte, wurstelte man sich als Mutter oder Vater mit einer Mischung aus System, Improvisation und Notfallprogramm durch den Tag. Und das erforderte die volle Konzentration. Über dich nachzudenken oder wie du irgendetwas gemeistert hättest, wäre eine wenig hilfreiche Ablenkung gewesen. Hättest du gewollt, dass wir jeden Tag zu Hause bleiben und aus dem Fenster gucken?
Aber gut. Es ist nicht meine Absicht, dass sich dieses Dokument zu der Litanei auswächst, die ich vor dem Familiengericht nie habe vorbringen dürfen. Ich akzeptiere
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