Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amity Gaige
Vom Netzwerk:
in den so finsteren Tagen im Februar.

DRITTER TAG
    Am späten Nachmittag unseres zweiten Tages in Grand Isle wurde ich auf einmal unruhig. Es war alles in Ordnung; ich hatte mich wahrscheinlich einfach nur zu lange nicht mit einem Erwachsenen unterhalten. Ich schlug Meadow vor, irgendwo etwas essen zu gehen. Sie war dabei. Wir stiegen in den Mini und fuhren auf der Route 2 in Serpentinen am Lake Champlain vorbei, der aussah, als wollte er sich jeden Moment in seiner ganzen goldenen Pracht über die Straße ergießen. Wir fuhren durch Urwald mit moosfarbenen Schatten, die selbst wirkten wie aus der Vorzeit. Es war wieder ein wunderschöner Tag, der dritte in Folge. Das Licht wirkte wie geläutert. Der Winter hatte sich als riesige Schmutzflut zurückgezogen und die Frühlingswelt neu und frisch gewaschen zurückgelassen, wie hier.
    »Bei all den Verfehlungen dieses Landes«, sinnierte ich laut, »bei all seinen Missständen, seinem Opportunismus, seiner Kleinkariertheit muss man sagen, dass es wirklich hübsch ist. Findest du nicht, Zuckerschnecke?«
    »Ja, wirklich .«
    »Es ist wirklich ein herrliches Land. Viele Menschen kommen her, weil sie irgendwo sicher und frei leben wollen.«
    »Die kommen nach Ellis Island«, sagte Meadow.
    »Genau, früher war das so.«
    »Aber wenn sie aus Mexiko kommen, schießen die Wachmänner auf sie.«
    Ich nickte aufmunternd. »Ich glaube nicht, dass man zwangsläufig auf sie schießt. Aber ja, es ist auch manchmal gefährlich, hierherzukommen. Amerika hat nicht für alle Platz, stimmt’s?«
    »Wieso eigentlich nicht?« Meadow deutete aus dem Fenster. »Hier oben ist doch genug Platz. Die könnten da hinten im Wald wohnen.«
    Ich grinste. Wir gingen beide wieder dazu über, auf Vermont zu schauen.
    »Du bist ein liebes Kind«, sagte ich.
    »Ich weiß«, erwiderte sie. »Das sagst du dauernd.«
    Die Landschaft wich zurück, und an ihre Stelle trat ein Dickicht aus kleineren Häusern, der Außenbezirk einer Stadt, die North Hero hieß, wie wir bald feststellten. Die Stadt bestand im Grunde aus einer kasernenartigen Anordnung von Ladengeschäften mit flatternden Markisen. Die Hauptstraße sah genau aus wie in jeder anderen amerikanischen Kleinstadt: ein Handwerkerladen, ein Kleintiersalon, ein Café, eine unmöglich kleine Leihbücherei. Meadow zeigte auf mehrere Lokale, aber ich fuhr weiter. Wir waren kurz davor, wieder in die endlose Landschaft Vermonts einzutauchen, da erblickte ich das neonfarbene Leuchten, nach dem ich Ausschau gehalten hatte. Mit quietschenden Reifen hielt ich am Bordstein.
    »Warte hier«, sagte ich und ging zum Fenster, um einen Blick ins Lokal zu werfen. Durch die gekräuselte Plastiktönung sah ich einen großen Mann hinter dem Tresen, der ein kaffeebraunes Bier zapfte.
    »Perfekt«, sagte ich zu Meadow, öffnete die Tür auf ihrer Seite und löste ihren Gurt. »Eine gemütliche kleine Bar. Genau das Richtige, um ein bisschen Lokalkolorit zu tanken.«
    Meadow stieg aus dem Auto. Ihre lila Nickihose – das einzige Kleidungsstück zum Wechseln, das sie in ihrer Tasche hatte – war voll mit Sand, und die Haare hingen ihr ungewaschen links und rechts aus dem Haarband. Ich rückte ihr die Brille zurecht und klopfte ihre Hose ab.
    »So«, sagte ich. »Du bist so ein hübsches Mädchen. Weißt du das?«
    »Eigentlich bin ich gar nicht so hübsch. Ich bin einigermaßen . Rapunzel ist hübsch.«
    »Rapunzel? Ist das dein Ernst? Was ist mit Maria Callas oder Benazir Bhutto oder jemand in der Art?«
    »Nein. Rapunzel ist die Hübscheste. Ich zeig dir ein Bild in meinem Märchenbuch, wenn wir wieder richtig zu Hause sind.«
    Niemand würdigte uns eines Blickes, als wir den Laden betraten. Ein Mann mit graumelierten Haaren saß allein unter dem Fernseher und starrte die Flaschen hinterm Tresen an, und in einem Separee an der Wandseite saß eine einsame Frau und zog sich mit Hilfe eines Taschenspiegels die Lippen nach. Ich freute mich außerordentlich, vor ihr auf dem Tisch einen roten Plastikkorb zu sehen. Also bekam man in dem Laden etwas zu essen.
    »Hier rauf, Hase.« Ich tätschelte den Barhocker neben mir.
    Als der Barmann zu uns kam, reichte ich ihm die Hand.
    »Wie geht’s?«
    »Gut.« Der Barmann schüttelte sie einmal kräftig. »Und selbst?«
    »Sehr gut«, sagte ich. »Hervorragend.«
    »Man müsste schon ein Arschloch sein, um an so einem Tag unglücklich zu sein«, gab er zurück und warf einen Bierdeckel auf den Tresen. »Was soll’s denn sein?«
    »Ein

Weitere Kostenlose Bücher