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Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amity Gaige
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sein.«
    »Von Toronto? Bürgermeister John Toronto. Und am 4. Juli darfst du das Feuerwerk eröffnen.«
    »Okay. Und dein Name? Wie soll ich dich nennen?«
    Meadow betrachtete die Decke. »Chrissy.«
    » Chrissy . Im Ernst?«
    Ihre Augen blitzten wütend in der Dunkelheit.
    »Okay«, sagte ich. »Chrissy ist gut. Falls wir einen Decknamen brauchen.«
    »Und ich hab goldblonde Haare. Wie Rapunzel.« Meadow seufzte. »Ich bin knallwach , Papa. Ich bin total aufgedreht . «
    »Ich auch. Soll ich dir was aus Das Kommen und Gehen der Vögel vorlesen? Vielleicht können wir ja davon einschlafen.«
    Eingekeilt zwischen den Le-Carré-Romanen auf dem kleinen Bücherregal unserer Hütte hatten wir den uralten Gedichtband einer lang verstorbenen Gesellschaftsdame namens Kitty Tinkerton Bridge entdeckt, die Vogelgedichte in Reimform verfasst hatte. In Ermangelung einer anderen Gutenachtlektüre hatten wir aus Das Kommen und Gehen der Vögel gelesen und die dilettantischen, aber nicht ganz unmelodiösen Gedichte ins Herz geschlossen, und das Vorlesen daraus war zu einer Art Ritual geworden.
    »Na gut«, sagte Meadow seufzend. »Lies vor.«
    Gerade hatte ich das Buch aufgeschlagen, da hörte ich die Fliegentür gegenüber zuknallen. In Anbetracht der Totenstille in unserer entlegenen Bucht konnte ich nur vermuten, dass in Hütte eins nun jemand zu Hause war.

MEINE ERSTE LÜGE
    Betrug ist per definitionem nicht der eigentliche Akt des Lügens, sondern die Absicht, von der Lüge zu profitieren . Lügt man aus Spaß oder aus den diversen anderen Gründen, aus denen wir lügen (etwa um körperliche Schmerzen oder Schuldzuweisungen zu verhindern oder um seinen herzzerreißenden Selbstbetrug weiterzuspinnen), gilt das noch nicht notwendigerweise als Betrug . Ich denke, zu meiner ersten Lüge mit Betrugsabsicht kam es 1975 in einem abgelegenen Flügel des Westberliner Rathauses. Zufällig gehört sie auch zu meinen wenigen frühesten Erinnerungen. Mein Vater führte ein Gespräch mit einem Westler in Zivil. Der Mann hatte blonde krause Haare, die er gleichsam atmosphärisch um den Kopf trug, und er hatte ein Hemd an, dessen oberste Knöpfe, wie ich vermutete, von selbst aufgegangen waren, denn diese Form des Experimentierens mit dem männlichen Dekolleté war in Ostberlin noch nicht angekommen, das wir vor wenigen Stunden erst hinter uns gelassen hatten. Der Mann und mein Vater hatten in der Zeit hauptsächlich gestritten. Der Schwager meines Vaters, der Mann, der uns seine Garagenwohnung zur Verfügung stellen sollte, war schon vor Stunden gegangen, nachdem er uns seine Adresse dagelassen und uns versichert hatte, dass wir bestimmt bald an der Reihe wären. Doch der blonde Westler schien allmählich mit seiner Geduld am Ende.
    »Aber, verstehen Sie, ich brauche irgendeine Bestätigung.«
    »Sie haben doch eine Bestätigung«, sagte mein Vater. »Sie haben zwei Ausreisevisa.«
    »Aber Sie sind verheiratet. Es gibt keine Scheidungsurkunde, und die müssen Sie vorweisen, nicht nur drüben, auch hier. Sie haben nichts –«
    »Ich hatte eine Stunde, um an der Friedrichstraße zu sein. Hätte ich die Leiche wieder ausgraben sollen?«
    Die Stimme meines Vaters wurde höher, wie immer, wenn er unter anderer Leute Dummheit litt. Schließlich sah mich der Mann mit dem Flauschkopf an und rief etwas in den Flur hinaus. Eine hübsche Brünette trat an die Tür. Der blonde Mann flüsterte ihr etwas zu, und sie lächelte mich an.
    »Na, du?«, sagte sie.
    Sie verschwand, um kurz darauf mit einer silbernen Dose zurückzukommen, die sie mir hinhielt. Ich kann mich noch genau daran erinnern: Die Dose war aus Alu und hatte ein birnenförmiges Trinkloch, das erst zum Vorschein kam, als die Frau die silberne Lasche abzog. Die Dose war unglaublich schön, ein kleines Pulverfass. Ich schwor mir, sie zu behalten.
    »Danke!«, rief ich.
    »Trink. Das ist Saft«, sagte die hübsche Frau und blieb im Büro stehen. »Wie alt bist du, Spatz?«
    Ich spreizte die Finger und hielt die Hand hoch.
    »Fünf? Na so was.«
    Mein Vater sah zu mir hinunter, und er warf mir einen Blick zu, den ich nur als gekränkt bezeichnen kann, und obwohl meine Niedlichkeit gerade dabei war, seine Beschwörungsversuche zu überschatten, schlürfte ich genüsslich meinen Saft auf dem Klappstuhl neben ihm.
    »Ein süßer Knirps. Ein richtig strammes Kerlchen«, sagte die Frau zu meinem Vater, wobei sie zwei Ausdrücke verwendete, die jenseits meines Horizonts lagen, denn es gab zwar auch

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