Schroders Schweigen
etwas Kriminelles ausgraben, einen dubiosen Handel oder eine Ausflucht, einen Moment, wo er oder sie sich das Gesetz an seiner dehnbarsten Stelle zunutze gemacht hatte. Und so war ich – haargenau bis zu dem Augenblick, als ich mich im Fernsehen sah – der Überzeugung gewesen, dass ich Meadow nicht »entführt« hatte, sondern lediglich mit erheblicher Verspätung von einem vereinbarten Besuch zurückbrachte.
»Papa«, sagte Meadow und schüttelte mich am Handgelenk. »Fahren wir denn immer noch nicht zum Mount Washington?«
»Heute nicht«, sagte ich. »Ich habe einfach Lust, mich hier noch ein bisschen umzusehen.«
»Aber wie viele Tage haben wir denn noch übrig?«
»Jede Menge.«
»Wie viele sind jede Menge?«
»Wir haben jede Menge Zeit, ja? Warum gehst du nicht spielen?«
»Ich will mit dir spielen.«
»Ich habe Kopfweh.«
»Warum tut dir dein Kopf weh, Papa?«
»Ich weiß es nicht, Meadow. Vielleicht wegen deiner ständigen Fragerei. Also bitte. Lass mich in Frieden. Ich brauche ein bisschen Zeit zum Nachdenken. Willst du denn nicht auch manchmal einfach mal alleine sein?«
Ihre Miene verdüsterte sich. Gut, dachte ich, ich habe sie gekränkt. Gut. Für meine Begriffe hatte sie noch einen weiteren langen, gesegneten Tag, einen ganzen Strand für sich allein. Sie hatte noch ihr ganzes Leben. Sie ging den Strand hinunter, schmollte, trat Sand hoch, grub Steine aus, blieb aber immer in der Nähe.
Da kam eine große und schlanke Frau im dünnen Nachthemd aus Hütte eins und reckte genüsslich ihre Arme über dem Kopf.
»Hal lo !« , sagte sie, als sie mich sah. »Ich hab ja Nachbarn.«
Meadow und ich erschraken beide. Ich stopfte meine Hände in die Hosentaschen, und Meadow, die im Wasser gehockt und zwei Steine gegeneinandergestoßen hatte, richtete sich auf.
»Hallo«, sagte ich.
Die Frau schlenderte den Weg zum Strand entlang, der keine zehn Schritte von ihrer Hütte anfing, hielt auf der grasbewachsenen Erhöhung zwischen Meadow und mir inne und stützte die Hände in die Hüften. Ich sah den dunklen Umriss ihres Schlüpfers unter ihrem Nachthemd. Das schien die Frau nicht weiter zu stören.
»Hey«, sagte sie und drohte uns mit dem Finger. »Witzig, oder? Ich hab euch gestern gesehen. In dieser Bar in der Stadt. Ich kann mich an euch erinnern, weil ich dachte, wie komisch, ein kleines Kind mit in eine Bar zu nehmen. Echt von der alten Schule. Wie seinerzeit in County Cork oder so.« Die Frau sah jetzt zu Meadow hinunter, die in ihrem Glitzerbikini dastand und ein Bein gegen das andere rieb wie eine Grille. »Aber ich wette, ihr habt euch amüsiert, was, Süße? Du wolltest einfach dabei sein, stimmt’s? Nee. Ich sag euch was. In so ’ner Bar kann man ’ne Menge lernen.«
Meadows Augen wurden groß hinter ihrer Brille. Auf dem kleinen Hügel wirkte unsere Nachbarin statuengleich und damit noch beeindruckender. Sie erwiderte unsere Blicke noch mit dem Lächeln ihrer letzten Frage auf den Lippen. War sie hübsch? Nicht direkt. Sie war zu ehrfurchtgebietend, um hübsch zu sein. Ich ließ die Szene in der Kneipe noch einmal Revue passieren. Ich erinnerte mich an eine blonde Frau im Separee, ja. War sie nicht schon gegangen, als wir in den Nachrichten kamen? Mit ausgestreckter Hand ging ich auf sie zu.
»Hallo«, sagte ich. »Ich bin John.« Ich zuckte innerlich zusammen. »John Toronto.«
Kraftvoll drückte sie mir die Hand. »Hallo. Ich bin April. April Los Angeles.«
»Gut«, sagte ich und zog rasch meine Hand zurück. Ich winkte in Meadows Richtung. »Und das ist meine Tochter Chrissy.«
»Hey, Chrissy!«, rief die Frau.
Meadow verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere. Dann kam sie näher, wenn auch nur, um besser sehen zu können.
»Und, womit willst du mal berühmt werden, Chrissy?«
Meadow blinzelte. »Wie bitte?«
»Wenn du mal groß bist. Womit willst du mal berühmt werden? Jeder will doch für irgendwas berühmt sein.«
»Ich will Lepidopterologin werden.« Nicht unfreundlich fügte Meadow hinzu: »Lepidopterologen beschäftigen sich mit Schmetterlingen.«
»Mit so was wirst du aber nicht berühmt.« Die Frau schenkte Meadow ein heiseres Lachen. »Verzeih mir, wenn ich jetzt nicht anfange, mit säuselnder Stimme auf dich einzureden, Süße. Kindersprache ist nicht mein Ding. Andererseits siehst du mir nicht aus wie ein Kind, das sich gern verarschen lässt. Oder? Guck mal, wie aufrecht du dastehst. Da muss ich mich ja schämen.« Dann wandte sie sich zu mir und
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