Schroders Schweigen

fragte: »Wie kommt es, dass alle jungen Mädchen immer mit Tieren arbeiten wollen?«
    Ich grinste. »Vielleicht, weil sie schön und sanft sind und die Welt hart und grausam?«
    April berührte mich am Arm. Jetzt, wo wir Seite an Seite standen, wirkte sie weniger amazonenhaft. Ich warf wieder einen Blick auf das Nachthemd, das zwar nicht komplett durchsichtig, aber definitiv nicht für draußen gedacht war.
    »Ja, da ist wohl was dran«, sagte sie zustimmend. »Ich selbst hatte mal eine gutgehende Tierpension. Ich erzähl euch davon, sobald ich wieder da bin.«
    Die Frau machte keine Anstalten, aufzubrechen.
    »Ach so«, sagte ich. »Wo geht’s denn hin?«
    »Nach Swanton, bisschen was einkaufen. Ich hab nichts mehr da. Habt ihr beiden vielleicht ein Stück Brot oder so was? Ich revanchiere mich auch. Braucht ihr irgendwas? Bring ich euch mit. Ich bin total ausgehungert .«
    Da ich nicht reagierte, ging Meadow in unsere Hütte und holte unserer Nachbarin zwei Scheiben Toastbrot. Sie legte sie auf den Plastiktisch, bestrich sie mit Mayonnaise, belegte sie mit je einer Scheibe Käse, und dann stand sie da und sah April beim Verschlingen des Sandwiches zu.
    »Ich besorg uns ein bisschen Grillfleisch«, sagte April und trat gegen den Grill. »Ich mach euch beiden ein Festessen, ihr werdet sehen.«
    Meadow stand da und betrachtete auf ihre ruhige, anthropologische Weise die Frau. Für eine Sechsjährige hatte sie eine ziemlich gute Menschenkenntnis. Hätte sie zu mir gesagt: Diese Frau macht dir noch Ärger , hätte ich sie beim Wort genommen. Aber ein einsamer Mann ist kein Skeptiker. Im Plastikstuhl an ihrer Seite atmete ich tief ein und seufzte als Tarnung für meine Lust, diese Frau zu vereinnahmen, und sei es nur ihren Duft, um einfach nur Los! zu sagen, Los! , zu einem Geben und Nehmen. Mein Verstand schien flackernd zu verlöschen. Na wennschon, bisher hatte er mir ohnehin wenig genützt.
    Als Meadow klein war, war sie eine Zeitlang vom menschlichen Körper fasziniert, vor allem von den inneren Organen. Sie wollte wissen, woher das Pipi und die Kacke kommt und wie das Herz funktioniert und derlei Dinge. Wir fuhren in die Bibliothek, um uns die Bände mit den anatomischen Zeichnungen anzusehen, und betrachteten murmelnd Blase, Knochen und Organe und das rote Muskelfleisch. Als wir an eine Zeichnung vom Gehirn kamen, wurde sie andächtig.
    »Das ist das Gehirn«, sagte ich.
    »Das Gehirn kenn ich schon«, sagte sie.
    »Ach ja? Erzähl mir mal was über das Gehirn. Was macht das Gehirn?«
    Sie war drei und schon etwas kurzsichtig. Ein Jahr später würde sie eine Brille bekommen, aber davor krabbelte sie sehr dicht an die Leute heran, wenn sie mit ihnen sprach, ich denke, um sie besser sehen zu können, nur war uns das damals nicht klar. Wir fanden es süß. So erinnere ich mich am liebsten an sie, wie sie ganz dicht vor meiner Nase sitzt und mir ins Gesicht atmet, mit weit auseinanderstehenden Augen und ernstem Blick.
    »Im Gehirn«, sagte sie zu mir, »wird Eis gemacht.«

LIEBESLIEDER
    Wunschliste der Artikel, die April uns aus Swanton mitbrachte, mitsamt Quittung und genau abgezähltem Wechselgeld: Snackmöhren, kernlose grüne Weintrauben, eine Packung Mortadella, eine natriumarme italienische Hochzeitssuppe von Progresso, Popcorn mit Cheddargeschmack, ein Zwölferpack Pepsi Light, ein Sweatshirt und ein Plastikeimerchen. Mein Plan sah eine Änderung der Taktik vor. Ich würde mir eine Fluchtstrategie einfallen lassen. Wir würden sauber aus der Sache rauskommen. In der Zwischenzeit würden wir uns amüsieren. Wir würden das schon hinkriegen.
    »Also, John .« April stocherte mit einem Stock in den Kohlen herum. »Was hat Sie und Chrissy hierher verschlagen?«
    Ich zuckte mit den Achseln. »Wir machen einfach nur eine kleine Reise. Feldforschung. Wir erforschen die Felder. Sammeln ein paar Schmetterlinge. Freunden uns mit großen Frauen an.«
    Sie stieß einen skeptischen Laut aus. »Ach was.«
    Ich seufzte, hielt den Atem an und atmete aus. »Und Sie? Was machen Sie hier?«
    »Ich bin auf der Durchreise, genau wie Sie.«
    Durch den Rauch hindurch lächelte sie mich an. Ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde. Sie hörte sich an, als würde sie mich sehr viel besser kennen, als es der Fall war. Sie machte mich nervös, und dabei konnte ich in meiner Lage unmöglich ein Freundschaftsangebot zurückweisen. Ich warf Meadow einen Blick zu, die sich ihr neues Sweatshirt mitsamt Preisschild übergezogen hatte und