Schroders Schweigen
in Ostdeutschland Liebe, nüchterne, private Liebe, ganz bestimmt, aber mit Zärtlichkeiten – das musst du mir glauben – hielt man sich zurück. Ich war begeistert von ihrem reißerischen Klang.
»Sehen Sie doch nur mal«, fuhr die Frau fort. »Wie geduldig er dasitzt. So aufrecht. Seine Mutter wäre stolz auf ihn. Meinen Sie nicht?«
»Ja«, sagte mein Vater mit blassem Gesicht. »Meine Frau – meine verstorbene Frau – hat ihn abgöttisch geliebt.«
Der Mann mit den blonden Haaren sah mich verzweifelt an. »Es stimmt also, was dein Vater sagt, ja? Deine Mama lebt nicht mehr? Wir müssen wissen, dass sie dich nicht vermisst.«
Ich riss die Augen auf. Die Nachricht, dass meine Mutter tot sei, überraschte mich nicht – ich wusste, dass das völliger Unsinn war, da ich sie am selben Morgen ja noch gesehen hatte –, mich wunderte nur, dass ich darauf angesprochen wurde. Ich hatte stundenlang in einem fensterlosen Raum voller Klappstühle gesessen, während mein Vater mit jeder zur Verfügung stehenden Person verhandelte, und bisher hatte sich niemand mit einer Frage direkt an mich gewandt.
Ich umklammerte meine Dose. Ich wollte sie für immer aufbewahren, und ich wollte sie zum Spielen behalten. In Ostberlin hatten wir keine silbernen Saftdosen. Ich wusste, dass mein Vater und ich eine Übereinkunft hatten. Ich würde sagen, was ich seinetwegen sagen musste, und er würde mein Anrecht auf meine Saftdose verteidigen. Groß und noch immer erhitzt spürte ich ihn neben mir, und noch immer rochen seine Hände – wie sie es für alle Zeiten tun würden – nach dem Stempelkissen vom Grenzübergang Friedrichstraße.
Ich betrachtete über den Schreibtisch hinweg den blonden Mann. Er ließ mich völlig kalt. Doch als ich einen Blick zur Tür warf, sah ich die Brünette, die sich mit einer ihrer weichen Wangen an den Rahmen lehnte. Und obwohl ich wusste, dass meine Mutter noch drüben war – irgendwo auf der anderen Seite –, rutschte ich in eine schwarzweiße Realität, in der ich sie komplett verloren hatte, was ja auch viel mehr der Wahrheit entsprach.
»Na, Kleiner? Hat’s dir die Sprache verschlagen?«
Ich brach in Tränen aus.
»Ach Mensch, lass ihn doch in Ruhe, Gerhardt«, sagte die Frau in der Tür. »Ist doch völlig schnuppe jetzt. Was willst du denn machen, die beiden wieder zurückschicken?«
VIERTER TAG
Ich erwachte mit Kopfschmerzen, als hätte ich zu viel getrunken. Lange saß ich auf dem Rand des Bettes und beobachtete Meadow im Schlaf. Im Morgengrauen kam die Abrechnung. Bei Tageslicht war es schwer zu leugnen, dass mir nur eine saubere Lösung blieb. Dass Meadow in Gefahr sei, war ein Missverständnis. Das konnte ich ausräumen, indem ich sie so schnell wie möglich nach Albany zurückbrachte. Bestimmt bekäme ich eine Geldstrafe. Vielleicht würde man mich sogar festnehmen. Nichts davon löste die körperliche Abneigung aus, die ich verspürte, sobald ich mir ausmalte, wie ich das Richtige tat. Warum? Weil ich nicht bereit war, mein Leben in die Luft zu jagen. Es mochte niemanden sonst kümmern, aber es war mein Leben. Mein liebevoll konstruiertes amerikanisches Leben. Ich wollte weiterhin der sein, der ich war. Ich wollte weiterhin Eric Kennedy sein. Wenn ich jetzt zurückfuhr, würden sie mich zwingen, Schroder zu sein. Und diesen Namen anzunehmen wäre Teil meiner Strafe, ein Ritus. Und niemand würde mir zuhören, wenn ich sagte: Aber ich bin nicht Schroder, und niemand würde verstehen, was ich damit meinte. Es ist dein rechtmäßiger Name, würde es heißen. Ich verstehe, dass das mein rechtmäßiger Name ist, würde ich sagen. Und es würde heißen: Wo ist dann das Problem?
In der blasigen Fensterscheibe über Meadows Bett erhaschte ich einen Blick auf mein Spiegelbild, das mich klagend ansah. Ich fuhr mir über den Unterkiefer. Ich verpasste dieser traurigen Visage ein paar kräftige Ohrfeigen, die mir die Tränen in die Augen trieben. Fester, dachte ich. Du bist ja nicht mal in der Lage, fester zuzuschlagen. Ich hielt inne, um zu verschnaufen.
»John Toronto, aber klar doch«, murmelte ich und stand auf, um mich zu rasieren.
Meadow und ich zogen los, es war ein nebliger Morgen. Beim besten Willen brachte ich nicht die gleiche Begeisterung auf wie am Vortag. Immer wieder starrte ich sorgenvoll auf den See und fragte mich, woher sie kommen würden. Vielleicht war es nur meine kindliche Prägung, aber mir schien, wenn man nur tief genug kratzte, würde man bei jedem Menschen
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