Schroders Schweigen
Wer zum Teufel ist Erik Schroder?
»Was bedeutet das Schild da?«, fragte Meadow plötzlich und zeigte aus dem Fenster.
Wir fuhren über einen Bergpass aus zersprengtem Granit.
Ich räusperte mich und bemühte mich um eine ruhige Stimme. »Steinschlag.«
»Na toll«, sagte Meadow. »Werden wir jetzt auch noch von Steinen erschlagen?«
Der Wind stand hoch und trieb die Wolken vor der Sonne hin und her. Jedes Mal, wenn wir in Schatten tauchten, wurde Meadows Brille zum Reflektor, und ihr Gesicht nahm einen kalten, mechanischen Ausdruck an.
»April fährt zu schnell«, murmelte sie. »Sie fährt zu schnell, damit wir nicht unter einen Stein kommen.«
»Hey«, sagte April mit Blick in den Rückspiegel. »Wie meine Mutter immer sagte, wie du mir nicht, so ich dir nicht.«
Meadow verschränkte die Arme und drehte den Kopf erneut abrupt zur Seite. »Ist mir egal, was deine Mutter immer sagte.«
Wieder verfielen wir in Schweigen. Wahrscheinlich hatte keiner von uns in seinem ganzen Leben so lange nichts gesagt. Ich warf April einen Blick zu, die sich mit beiden Händen um die obere Hälfte des Lenkrads klammerte wie eine alte Oma. Wie schlimm, wie verzweifelt war ich, dass ich mich der Barmherzigkeit einer Frau wie ihr hatte ausliefern können?
»Hey, April«, sagte Meadow finster.
»Ja, Spatz?«
»Ich heiße eigentlich gar nicht Chrissy.«
April lachte. »Das hab ich mir schon gedacht, Spatz.«
Ich drehte mich nicht um.
»Ich heiße Meadow. Meadow Kennedy.«
»Tja«, sagte April, »dafür heiße ich wirklich April Almond. Auch wenn’s wie ausgedacht klingt.« Wieder lachte sie, aber diesmal klang es eher unfroh. »Komisch, die Leute wollen mir immer die Wahrheit sagen, obwohl sie’s besser lassen sollten.«
»Mein Papa sagt nicht immer die Wahrheit. Einmal wollte er mich in den Kofferraum einsperren.«
Ich fuhr herum. »Was?«
»Das stimmt .«
»Das stimmt nicht . Ich habe dich nicht eingesperrt . Und außerdem habe ich mich zig Mal dafür entschuldigt.« Ich sah April an. »Ich habe mich dafür entschuldigt.«
» Mir musst du das nicht erzählen«, sagte April.
»Und Mama hat gesagt, du hast manchmal gelogen.«
»Wann?«
»Als ich klein war. Und du hast mich immer irgendwo mitgenommen.«
»Was, in die Bibliothek ? Damals, als ich mit dir zu Hause geblieben bin? Und sie gearbeitet hat?«
»Nein. So was wie die Kirche, wo alle geweint haben. Mama hat gesagt, das war nichts für Kinder.«
Wieder wandte ich mich zu April. »Das war eine Sitzung der Anonymen Alkoholiker. Ich bin da hin, um einen Freund zu unterstützen.«
»Du hast sie zu einer Sitzung der Anonymen Alkoholiker mitgenommen?«
»War vielleicht nicht so schlau.«
»Jedenfalls hab ich Mama alles darüber erzählt«, verkündete Meadow.
»Solche Sachen darfst du Mama nicht erzählen, Meadow. Sie versteht sie nicht, wenn sie aus dem Kontext gerissen sind.«
»Trotzdem!«, kreischte Meadow. »Du sollst nicht lügen. Wenn alles gut gewesen wäre, hättest du’s erzählt!«
»Ist ja gut, ist ja gut«, sagte April. »Wisst ihr was? Ich will eigentlich gar nichts mehr von dieser ganzen Sache hören. Ich bin sicher, ihr seid beide sehr wichtige Leute. Ihr hättet für euren Lebenswandel ’ne Parade mit Konfetti verdient. Gut? Wie auch immer, freut euch lieber. Wir fahren jetzt nach New Hampshire rein, das ist toll da. Die White Mountains. Gleich geht’s über den Kancamagus. Wahnsinnig schön. Ihr werdet staunen. Viel besser als das hier. Dagegen können die Green Mountains echt einpacken. Sollen wir ein bisschen Radio hören?«
Gereizt drehte sie an den Knöpfen. In der Ferne stürzten die Berge ineinander. Die vorgelagerten Bergketten waren dunkel und grün, die ferneren blasser und höher, und dahinter tauchten wie ein Echo noch blassere Berge auf, und der schroffe Horizont nahm sich aus wie eine Reihe von Bergskizzen.
»Ich muss mich bei dir bedanken«, sagte ich zu April, mit belegter, schmerzvoller Stimme. »Du bist – du bist –«
»Kein Problem. Gern geschehen.«
»Ich bin kein schlechter Mensch.«
April seufzte. »Vielleicht ja, vielleicht nein. Jedenfalls bist du sehr viel weniger schlecht als andere Leute, die ich so kenne.«
»Danke.«
»Wie gesagt.«
»Ich will nur sagen, danke, dass du uns mit zu dir nimmst. Ich muss nur einfach irgendwo zur Ruhe kommen. Mich sammeln.«
»Du wirst da nicht bleiben, John.« April wandte sich zu mir und sah mich entschlossen an. Dann schaute sie erneut nach hinten und begegnete
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