Schroders Schweigen
sagte sie, »wenn du jetzt denkst, es sieht schlimm aus, solltest du’s mal bei Tageslicht sehen.«
»Wohnt da jemand?«, wollte Meadow wissen.
»Sicher. Die Kinder von meinem Cousin sind hier aufgewachsen. Die Umgebung ist echt schön. Da drüben« – sie deutete in die Dunkelheit –, »da ist ein kleiner Bach mit echten Fischen drin. Und in die Richtung ist ein Hügel, wo sie immer Schlitten gefahren sind. Sie hatten alles. Einen Gemüsegarten. Tomaten. Karotten. Dill. Vogelhäuschen. Räucherkammer. Landleben pur.« Sie wandte sich zu mir. »Hast du schon mal von der Back-to-Earth-Bewegung gehört? Von diesen Paaren, die alles verkaufen und sich aus Feldsteinen ein Haus bauen, und die Kinder laufen alle nackt rum, und alles wird selbst angebaut?«
Ich nickte, denn ich konnte noch immer nicht sprechen.
»Na ja, ich glaube, so was Ähnliches hatte mein Cousin im Sinn. Ging natürlich irgendwann in die Hose, aber immerhin hat er’s versucht. Es waren gute Zeiten. Früher bin ich hier immer mit meinen Freunden rausgekommen. Sogar mal mit J.J. Torraine von den Minor Miracles, vor ewigen Zeiten. Also gut. « Sie klatschte in die Hände. »Gehen wir mal rein. Lass ruhig das Licht an, genau, dann können wir auch was sehen. Du kannst meinen Seesack nehmen, John. Und du – kleiner Schmetterling –, na ja, bring du mal deinen Eimer.«
Dergestalt motiviert erwachten wir aus unserer Erstarrung und gingen hintereinander im Licht der Schweinwerfer auf das Haus zu. Vor mir marschierte Meadow, mit ihren dünnen Beinchen unter dem übergroßen Sweatshirt. Das Preisschild schaute hinten aus dem Kragen. Plötzlich knackte ein ziemlich großer Ast, und irgendetwas bewegte sich im Wald. Wie angewurzelt blieben wir stehen.
»Was war das denn?«, flüsterte ich.
Ich sah Meadows Miene im Licht – verängstigt, aber trotzig, beinahe zufrieden. Als dächte sie: Stellt mich ruhig auf die Probe.
»Wahrscheinlich ein Elch«, sagte April und machte sich am Türschloss zu schaffen. Soweit ich sehen konnte, war die Tür der Hütte aus einem Stück Holz gehauen, mit Leder bezogen und mit Messingbolzen verziert, als hätte man irgendwo eine Kirche geplündert.
April machte Licht, und wir fanden uns mitten in einem merkwürdigen Raum wieder. Überall lagen kleine Haushaltsgegenstände herum, die in Eile zurückgelassen worden waren, und das Ganze wirkte wie eine Szene aus Pompeji, hatte fast etwas Museales – ein Buch lag offen auf dem Tisch, in dem abgewetzten Hundekorb sah man den Abdruck des Hundes, an den Haken entlang der Wand hingen noch die Mäntel. Von diesen Gegenständen abgesehen war der Raum nicht besonders hübsch. Der dunkle Teppich war wetterfeste Auslegeware, die Betonquader waren auch innen nicht gestrichen, in der abgehängten Decke fehlten ein paar Paneele, und rosa Isolierstoffstreifen nebst Kabeln schauten heraus. Der Raum war offenbar ein Allzweckfamilienzimmer, mit einer Behelfsküche aus Schränken, Theke, Propangastank und einem, wie es aussah, Kühlschrank an der hinteren Wand. Ganz offenkundig war das Haus von jemandem gebaut und eingerichtet worden, der keinen Plan hatte. Zur Bestätigung dieser Tatsache schien ein großes, ebenfalls an die Stirnwand geschobenes und mit Kissen gefülltes Aluminiumkanu das einzig erkennbare Möbelstück darzustellen.
»Dein Bett«, sagte April und deutete auf das Kanu.
»Ein Kanu? In dem Kanu soll ich schlafen?«
»Wieso? Die Sitzbänke sind doch rausgenommen.«
Da musste ich auflachen, eine Spur aggressiv. »Und wo darf Meadow schlafen? In einem Kajak?«
»Nein, sie kriegt ein paar Heuballen hinterm Haus.« April verdrehte die Augen. »Ich mach doch nur Spaß. Sie kriegt ein richtiges Bettchen, einmal durch diese Tür dort. Immer erst an die Kinder denken, so war er drauf, mein Cousin. Er selbst hat immer gerne im Kanu geschlafen. Warum, hab ich ihn nie gefragt.«
»Klar. Ha. Geht einen ja auch nichts an.«
»Hast du ein Problem mit diesem Haus, John Toronto?«
»Nein«, sagte ich und massierte mir den Kopf. »Nein.«
April wandte sich an Meadow. »Geh ruhig mal durch die Tür da, Spatz. Guck dir dein Zimmer an.«
Meadow machte einen Schritt nach vorn. Ich sah ihr an, dass sie dieses Heim genauso eigenartig fand wie ich. Was war mit den Leuten hier passiert ? Wohin hatten sie so schnell verschwinden müssen? Es drängte sich der Gedanke auf, dass sie in Gefahr gewesen waren, aber nicht, weil sie etwas Böses getan hatten, sondern deshalb, weil sie eine Familie
Weitere Kostenlose Bücher