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Schroders Schweigen

Schroders Schweigen

Titel: Schroders Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amity Gaige
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unserem Trennungsjahr, dem Jahr, in dem du dich von mir löstest, hätte ich mir niemals träumen lassen, dass meine Beziehung zu Meadow in Gefahr wäre. Wir hatten ein inniges Verhältnis; wir hatten gerade ein ganzes Jahr miteinander verbracht. Selbst als es vorbei war und ich wie geplant wieder arbeiten ging und als sie gegen meine Einwände an der katholischen Vorschule angemeldet wurde, waren wir, wie ich fand, einander eng verbunden. Sie und ich, heißt das. Das Band zwischen uns – mir und dir, Laura – war allenfalls dünn. Während ich bei der Arbeit war, mit wenigen anderen Überlebenden von Clebus wieder in Immobilien machte, verbrachtest du schöne Stunden mit Meadow, wenn sie aus der Schule kam. Wenn ich nach Hause kam, hast du deine Klassenarbeiten genommen und dich zum Korrigieren ins Schlafzimmer zurückgezogen. Und? Na und? Die Liebe kommt und geht, oder? Entfremdung setzt Eigenständigkeit in Gang. Ich begann wieder Fußball zu spielen. Ich flirtete heftig mit den Freundinnen, die zum Zugucken kamen. Die Jungs wirkten auf mich viel jünger als noch vor zwei Jahren. Ich hatte Fotos von Meadow in meinem Portemonnaie, für jeden, der sie sehen wollte. Ich sagte mir, dass der Raureif, der sich über meine Ehe gelegt hatte, etwas Natürliches sei – eine natürliche Entwicklung.
    Aus meiner gegenwärtigen Perspektive sehe ich das Ganze klarer. Ich denke an dich. Ich denke an mich. Ich denke an Mama. Ich denke an Papa. Ich denke an Mama, an Papa und das Gehirn, in dem Eis gemacht wird . Ich denke an Vogelgesang. Ich denke an die singenden Vögel im Treptower Park . Und ich denke an die Dichte der Kindheit.
    Falls sich meine Eltern irgendwann einmal geliebt hatten, wurde auch diese Wahrheit schnell unter zu vielem begraben, um mir noch irgendwie zu nützen. Ich weiß noch, wie ich dasaß, das Kinn auf den Knien, und wie gebannt ich hinsah, während die beiden in unterschiedliche Tätigkeiten versunken waren, wie Papa mit einer Stirnlampe in ein Schweizer Uhrgehäuse blickte, während Mama eine Modezeitschrift vom Schwarzmarkt las, und wie ich staunte über ihre Stille. Wie konnten zwei Wesen nur so still sein? Wie konnten sie sich so lange konzentrieren, ohne sich zu rühren? Es kam mir nie in den Sinn, dass ich genauso konzentriert war. Ich konzentrierte mich auf sie. Ich verlor mich in der Beobachtung, und ich fragte mich, was die beiden so faszinierte und wann sie denn wohl etwas zueinander sagen würden. Ich spürte meine Lider und wie sie sich über meinen Augen öffneten und schlossen. Ich hörte, wie sich die Stubenfliegen im rautenförmigen Wandleuchter über mir verbrannten. Ich hörte das Klappern der Töpfe in den beiden Nebenwohnungen. Schließlich blickte meine Mutter hoch und gab mir einen Stupser mit ihrem Schuh. Jetzt krieg dich mal wieder ein , sagte sie immer.
    Liebte ich sie? Oh ja, sehr. Davon versuchte mich nie jemand abzubringen. Ich liebte sie und ich liebte meinen Vater und ich liebte meinen Opa und ich liebte die Lehrerin in meiner Vorschule und ich liebte den Hütehund, der auf uns aufpassen musste, wenn sie irgendetwas zu erledigen hatte. Ich liebte es, vor meiner Mutter auf dem Boden zu sitzen und eine Reihe Holzklötzchen an einer Schnur hinter mir herzuziehen, eine Art kubistische Raupe, während sie müßig mit dem Fuß im modischen Stiefel vor sich hin wippte, ein Stück Rasen unter dem hohen Blockabsatz. Wer sie war, bleibt jedoch heiß umstritten. Nutte. Fanatikerin. Kollaborateurin. Kommunistin. Es ist sehr schwer, das alles in Einklang zu bringen mit der Mutter, die mich im Treptower Park spazieren fuhr, wobei ihre Synthetikschlaghosen neben mir ein beruhigendes Waschbrettgeräusch erzeugten. Sie war diejenige, die mir beibrachte, immer erst zu fragen, ob ich den Hund streicheln dürfte, bevor ich mich auf ihn stürzte. Sie war es wohl auch, die mir Lesen, Schreiben, Walzertanzen und Schnürsenkelbinden beibrachte und In-beide-Richtungen-Gucken, bevor man die Straße überquert. Eine Frau, die so etwas tut – die einem zeigt, wie man seine Schnürsenkel bindet –, hat eine Seele. Sie hat eine Seele, auch wenn sie sich tatsächlich, wie mein Vater mir einmal in einem Anflug von Zorn erzählte, in irgendeinen hochrangigen Parteifunktionär verliebte, der sie mit weißer Schokolade verführte.
    Aber was war mit dieser Affäre mit dem Kommunisten? War er der Schurke? Wie war das möglich, wenn wir am Ende dank seiner Fürsprache keinen Bus oder Zug entführen, keinen

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