Schröders Verdacht - Der Italien-Thriller (German Edition)
stets bei ihm. Wenn andere Leute im Wald spazieren gingen, hingen Josef und Ingrid Schröder in irgendeiner Wand und freuten sich des Lebens – daran, dass sie andere Dinge taten als ihre Nachbarn.
Im Spätsommer 1962 wurde der kleine Reinhard geboren. Irgendwann war die Zeit reif. Sein Vater und seine Mutter nahmen ihn zum ersten Mal mit. Reinhard wuchs heran, seine Eltern wussten ihn für das Klettern zu begeistern. Seine Zähigkeit nahm zu. Jeden Sommer verbrachte die Familie in den Alpen.
Als Reinhard siebzehn Jahre alt war, erlitt sein Vater einen Herzanfall. Er stand am Ufer des Gardasees, riss plötzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht seine Hand in die Höhe und fiel kopfüber ins Wasser. Bevor Reinhard bei ihm war, war er ertrunken. Seither lebte Ingrid Schröder zurückgezogen bei ihrer Schwester und war nie wieder in die Berge gefahren. Reinhard jedoch war im Bergsteigen immer besser geworden und irgendwann genauso gut, wie es sein Vater einmal gewesen war.
Schröder stieg aus dem Vectra und sah sich die Wände der Zinnen an. Er erinnerte sich an die harten und wundervollen Besteigungen, die er hier mit Freunden durchgeführt hatte: die Cassin-Führe durch die permanent überhängende Nordwand der Westlichen Zinne, die mit ihrem schwindelerregenden Quergang dem Kletterer das Letzte abverlangte; die Comici-Route durch die Nordwand der großen Zinne, noch großzügiger und länger; die gelbe Kante an der kleinen Zinne, eine wunderbare Extremführe, an der sich die Kletterer so ausgesetzt fühlten, als würden sie auf der Klinge eines Schwertes reiten, das jemand senkrecht in den Boden gerammt hatte. Seine Erinnerung war Leidenschaft, pure Leidenschaft.
Im Angesicht dieser Felsburgen, die wie durch ihre Geröllfelder hindurch gestoßen wirkten, kam Schröder erneut dieses schreckliche Erlebnis in den Sinn, das er vor vier Jahren gehabt hatte: Mit einem Freund hatte er an einem selten bestiegenen Dolomitenberg eine neue Extremführe gelegt, die Besteigung hatte sie alle Kraft gekostet. Sehr spät erst waren sie am Gipfel angekommen. Dem atemberaubenden Panorama konnten sie nur kurz Aufmerksamkeit schenken, denn sie mussten vor der Dunkelheit wieder ins Tal. Die Abstiegsroute schien nicht einfach. Sie beschlossen, den größten Teil frei abzuklettern und die sehr schwierigen Stellen abzuseilen. Schröder hatte die Haken gezählt, die ihnen noch geblieben waren, um Abseilstellen einzurichten. Es waren sieben. Sie mussten sparen, wo es ging.
Beim Abstieg hatte sein Partner an einer Stelle einen alten Haken gefunden, den hier jemand vor langer Zeit in den Fels getrieben hatte. Die Öse des Hakens war so nah an die Wand heran geschlagen, dass ein unbekannter Bergsteiger, der ihn lange vor ihnen benutzt hatte, eine Reepschnurschlinge geknüpft hatte, um sein Seil hindurch fädeln zu können. Schröder, der als Zweiter abgestiegen war, sah, dass sein Freund ihr Seil nur durch diese alte Schlinge gelegt und keine neue geknüpft hatte. Doch der Körper seines Partners war schon über die Felskante verschwunden. Nur sein Gesicht war noch zu sehen und zwinkerte Schröder frech zu. Schröder beobachtete die alte Schlinge und fluchte über seinen Freund. Dann fingerte er an seinem Gurt und nahm ein Stück Schnur zur Hand, das er zur Sicherheit zusätzlich einknüpfen wollte. Er fädelte es durch die Öse des Hakens und folgte dem Verlauf der alten Schnur, die vom Gewicht des zwei mal fünfzig Meter langen Seils und dem Körper seines Freundes gespannt war wie die Sehne eines Bogens. Gerade wollte Schröder den Knoten legen, da geschah das Unfassbare: Die alte Reepschnur riss! Lautlos schlingerte das Doppelseil über die Felskante. Nur ein dumpfer Aufprall zeugte davon, dass sein Freund den Bogen überspannt hatte. Seine Müdigkeit hatte ihn leichtsinnig werden lassen.
Schröder war in Schockstarre geraten. Und er war jetzt ohne Seil. Er benötigte fast eine Stunde, um die gefährliche Wand abzuklettern und zu seinem Freund zu kommen, der auf einem Vorsprung liegen geblieben war. Er sah Schröder an, hatte seinen Fehler längst begriffen, nickte ihm mit gütigen Augen zu und starb in dessen Armen mit einem Lächeln auf dem blutigen Gesicht.
Schröder stieg wieder ins Auto. Er fuhr über Misurina und bei San Stefano di Cadore Richtung Osten ab. Er fuhr in das Tal hinein, das die Berge der nördlich gelegenen Karnischen Alpen zur Piave hin entwässerte. Nach einiger Zeit hatte er Sappada erreicht. In dem verträumt
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