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Schroedingers Schlafzimmer

Titel: Schroedingers Schlafzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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klassisches Blau«, sagte sie und wies auf das Regal.
    »Indigo«, nickte er. »Wußten Sie, daß man bei der Indigoherstellung aus den Blättern des Färberwaid-Strauches erst durch kräftiges Peitschen der Blätterbrühe – zum Beispiel mit einem Reisigbesen – den Farbumschlag von Grün zu Blau erreicht? Das Peitschen bringt den Sauerstoff in die Soße, und auf einmal entsteht vor Ihren Augen |74| ein traumhafter nachtblauer Niederschlag. In der indischen Astrologie wird Indigo-Blau dem Mond zugeordnet, aber auch dem, was die Inder das ›Dritte Auge ‹ nennen, das Auge der Weisheit. Der Mond beherrscht durch Ebbe und Flut das Wasser, und das heißt: die Fruchtbarkeit. Und die Tiefe des Wassers symbolisiert das Unbewußte, die psychischen Prozesse. Man darf nicht vergessen, daß Indigo-Blau das Produkt einer Gärung ist, einer stofflichen Veränderung, die das Peitschen bewirkt. In der Nacht gärt es gleichsam
in uns
. Die irischen Frauen sollen sich früher zu Ehren der Fruchtbarkeits-Göttin Anu, der Göttin des dunkelblauen Nachthimmels und des dunkelblauen Meeres, mit Indigo bemalt haben. Der Farbton symbolisierte sowohl Geburt als auch Tod, sowohl Lust als auch Schmerz. Indigo ist die Farbe des Unbeobachtbaren, des unendlichen Reichs der Möglichkeiten. Ich sagte ja schon, daß mein Großvater bewiesen hat, daß nur das Licht oder psychologisch gesprochen unser extremer Hang, alles ins Bewußtsein zu zerren, uns ins enge Korsett des vermeintlich Realen zwingt. Wenn es uns hingegen gelingt, uns davon zu befreien und ins Unbewußte fallen zu lassen, in den Indigo-Teil unserer Persönlichkeit, lösen sich alle Grenzen auf, die unserem Handeln scheinbar gesetzt sind, und wir betreten das Reich der Magie und der Leidenschaften   … Ach Do, Ihre Hefte sind absolut perfekt! Ich habe nicht zu hoffen gewagt, so schnell und so reichlich fündig zu werden.«
    Do nahm die Kladden entgegen und ging voraus zur Kasse. Sie fragte sich, ob irgend etwas von dem stimmte, was er ihr aufgetischt hatte. Mit Urin fixiertes Rot, durch |75| Besen hervorgepeitschtes Blau! Oder Frauen, die sich zu Ehren einer Göttin mit Indigo bemalten. Oder Läusemännchen, die nach dem Sex sterben mußten, weil sie keinen Mund hatten, um sich zu ernähren. – Do begriff, daß Schrödinger ein Mann der Bühne war. Er mochte es, wenn man ihm zuhörte. Und offenbar verfuhr er dabei nach dem Prinzip, daß eine gut erfundene Geschichte besser war als eine schlechte wahre.
    Do war immer leichtgläubig gewesen. Sie erinnerte sich an ihr kleines moosgrünes Kinderzimmer. Und sie dachte an ihren Vater, der ihr abends Märchen vorgelesen hatte und dabei müde durch die Linsenhalbmonde seiner Lesebrille auf das Buch in seinen Händen starrte. Während er mit monotoner Stimme las, waren vor Dos innerem Auge magische Welten entstanden. Tiefe, tannendunkle Wälder und hochgelegene edelsteingleiche Schlösser. Hexen, die mit höckerigen Nasen ihr Unwesen trieben. Bärtige Könige, die in steinernen Hallen regierten, Prinzessinnen, die sträflich allein in Schloßgärten spielten. Und Prinzen, die pünktlich zur Stelle waren, wenn sie gebraucht wurden. Es dauerte lange, bis Do in der Pubertät allmählich begriff, daß all das nur Psychologie gewesen war. Die brennende Hexe: der Wunsch, die eigene Mutter zu töten. Dornröschens hundertjähriger Schlaf: die unendliche Länge der Kindheit bis zum sexuellen Erwachen. Die Tiefe der Nacht: Der Wunsch zu sterben, zu vergehen, sich selbst zu überwinden, alle Fesseln abzuwerfen.
    Do spürte, daß Schrödinger sie beobachtete, als sie zur Kasse ging. Er maß sie mit seinem Blick: Ein Künstler, der eine Form abspeicherte, zur späteren Verwendung. Im |76| Vergleich zu ihm war sie jung, und es gefiel ihr, daß sein Alter ihres – sie war siebenunddreißig – relativierte. Deswegen war sie bereit ihm zu verzeihen, daß er ein Lügner und Geschichtenerzähler war. Irgendwann hatte sie festgestellt, daß es in guten Geschichten immer um Sex ging. Männer wollten Sex, und Frauen bekamen ihn. Die Frauen waren es, die wählen konnten, aber nicht die Männer, weil sie nicht frei waren in ihrem Triebleben. Legenden und Märchen. Als Do die Kasse erreichte und sich umdrehte, erschrak sie über den Gedanken, daß das, wonach Frauen sich sehnten, nicht Männer waren (von denen gab es genug), sondern Zauberer.
    Schrödinger stand in seinem Halb-Künstler-halb-Vertreter-Outfit vor ihr. Sie sagte: »Wozu brauchen Sie die Hefte?

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