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Schroedingers Schlafzimmer

Titel: Schroedingers Schlafzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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Kladden mit schönen Leineneinbänden.«
    Do nickte: »Hinten rechts. Ich zeige sie Ihnen.« Sie ging an ihm vorbei, und er folgte ihr beinahe lautlos. »Hier, die kommen aus England, säurefreies Papier, biologische Färbung des Leinens. Die gelbe Farbe macht man mit Zwiebelschalen, und das Rot gewinnt man, soviel ich weiß, aus irgendwelchen Insekten.«
    »Schildläusen«, sagte Schrödinger sofort und nahm die Kladde in die Hand. »Aus der mittelamerikanischen Cochenille-Schildlaus, um genau zu sein. Die Läuseweibchen leben auf den Blättern des Feigenkaktus, und nachdem sie ein paar Wochen lang Kaktussaft gesogen haben, werden sie geschlechtsreif. Die Männchen paaren sich mit ihnen und sterben anschließend, weil sie keinen Mund haben, um sich zu ernähren. Wozu auch? Sie haben ihren Daseinszweck erfüllt, die Natur füttert niemanden um seiner selbst willen durch, sie wirft die Männer einfach weg, nachdem sie sie ausgelutscht hat. Kein Nachfüllen, kein Recycling: die pure Abfallwirtschaft – ex und hopp. Für die Schildlausweibchen sind die Männchen nichts als Einwegflaschen. Aber erstaunlicherweise waltet ja überall irgendeine undurchschaubare Form von höherer Gerechtigkeit. Der rote Farbstoff im Chitinpanzer der Weibchen ist nämlich derart leuchtend und schön, daß schon die Azteken ganz verrückt danach waren. Sie haben die Cochenilleschildlausweibchen von den Kakteenblättern gekratzt und in kochendes Wasser geworfen, um die begehrte Chemikalie herauszulösen. Der reinste Massenmord. Für einen Löffel Farbpulver mußten an die hunderttausend Läuse |72| dran glauben. Übrigens benutzten die Azteken Harnsäure zum Fixieren des Farbstoffs auf Hosen und Ponchos, also ihren Urin. Die Archäologen haben sich über die Massen von Nachttöpfen gewundert, die sie bei ihren Ausgrabungen gefunden haben, bis sie hinter den Prozeß der Cochenilleherstellung gekommen sind. Wer weiß, Do, wie viele Schildlausweibchen ihr Leben für diese Kladden haben lassen müssen, die Sie da im Regal haben. Wunderbar! Genauso ein Heft habe ich gesucht. Es ist perfekt. Es ist eine Huldigung an die ewige Schönheit der Frauen, die sie am Ende ins Verderben stürzt.«
    Der Magier legte seine Hand flach auf den roten Kladdeneinband und strich einmal zärtlich darüber. Do sah ihn an und wurde von einem Gefühl durchdrungen, das sie nicht einzuschätzen vermochte. Sie beschloß, daß es sich um Unbehagen handeln mußte, weil damit klar war, daß es keine Faszination sein konnte. Sie sagte: »So etwas. Man denkt ja immer, ökologische Methoden wären irgendwie sanft.«
    »Aber nein. Die Ökologie ist näher dran an der Natur und also um Längen brutaler als jede Technik. Ich hätte Ihnen die Sache nicht so drastisch schildern sollen, denn natürlich geht es auch anders. Sehen Sie, dieses Zwiebelgelb«, er nahm Do die andere Kladde aus der Hand und legte sie auf die rote, »ist ja rein pflanzlich und läßt sich ohne jedes Gemetzel gewinnen. Und doch ist der Farbton in meinen Augen nicht weniger schön und ebenso feminin wie das Rot der kleinen Cochenilleweibchen. Überhaupt ist die Zwiebel für mich eine durch und durch weibliche Pflanze, auch wenn das in Ihren Ohren wenig charmant |73| klingen sollte. Aber es wäre doch ganz und gar ungerecht, die Zwiebel auf ihren scharfen beißenden Geruch zu reduzieren. Es ist absolut erwiesen, daß es kein gesünderes, ja heilkräftigeres Nahrungsmittel gibt als die Zwiebel. Und außerdem, Do, symbolisiert ihr Schalenaufbau ein universelles philosophisches und existentielles Prinzip. Wir glauben, Dinge zu erkennen, und in Wirklichkeit schieben wir nur Schleier um Schleier beiseite, um sogleich auf den nächsten zu stoßen. Wir wissen niemals, ob wir wirklich zum Kern einer Sache vordringen oder noch unendlich weit von diesem entfernt sind. Und mit Menschen geht es uns ebenso! Wir versuchen, einander zu verstehen und zu durchdringen, und alles, was uns gelingt, ist, daß wir uns vielleicht ein wenig schälen. Wer hätte einen anderen jemals nackt gesehen? Wahrhaft nackt, meine ich. Insgeheim sehnen wir uns ja danach, erkannt zu werden, und doch verbergen wir uns hinter den dicken, dichten Schalen unseres Egos, unserer Eitelkeiten und oberflächlichen Ziele. Das ist so traurig und melancholisch wie das tiefe, warme Gelb dieses Heftes hier. Es ist herrlich, es ist genauso wertvoll wie das andere, das rote. Ich nehme beide, aber ich brauche drei. Unbedingt drei.«
    »Wir haben auch noch

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