Schroedingers Schlafzimmer
Morgen.
Doch in aller Frühe – die ersten Sonnenstrahlen waren noch kaum ins Zimmer gekrochen – stand Jonas mit leuchtenden Augen an Olivers Bett und fing sofort an, von der Geburtstagsfeier zu plappern. Er könne es gar nicht mehr abwarten bis zur Zaubervorstellung!, sagte er fiebrig und schlang seine warmen aufgeregten Ärmchen um seinen übernächtigten geräderten Vater. Da brachte Oliver es nicht übers Herz, einen Rückzieher zu machen und seinem Kind diese Freude zu nehmen.
Er begriff in diesem Moment, wie kostbar (und auch wie verletzlich) die Fähigkeit des Jungen war, sich bedingungslos zu freuen und der Zukunft den Status eines heranschwebenden Paradieses zuzuerkennen. Und er sagte sich, daß er nicht das Recht hatte, dieses kindliche Urvertrauen zu beschädigen, indem er dem Jungen schnöde erklärte, sich in Sachen Magie überschätzt zu haben. Das schien ihm brutal und grausam, und er küßte den Jungen.
|81| Oliver ging seine fünf Tricks einen nach dem anderen in Gedanken durch, um abzuwägen, wie realistisch seine Chancen waren, die versprochene Show einigermaßen würdig und effektvoll über die Bühne zu bringen. Zu seinem Repertoire gehörte ein Kartentrick. Hinter diesem verbarg sich zwar nicht einmal der Hauch eines »echten« Tricks, aber er erweckte den Eindruck hoher magischer Präzision. Die vier Asse, Könige, Damen und Buben eines Kartenspiels wurden dabei zunächst in vier »Krankenzimmer« gesteckt, in denen jeweils ein As neben einem König, einer Dame und einem Buben lag. Auf die Reihenfolge kam es dabei nicht an, aber es mußte in jedem »Zimmer« dieselbe sein. Auch konnte man (nicht bei einem Kindergeburtstag) statt der Krankenzimmerversion eine frivolere Schlafzimmervariante des Tricks wählen (mit weiblichen Assen), aber Oliver hatte sich angewöhnt, bei der Krankenhausgeschichte zu bleiben. Er war sich seiner Wirkung in Gesellschaft niemals sicher, wenn es schlüpfrig wurde.
Der Trick ging folgendermaßen: Nachdem die vier Stapel auf dem Tisch lagen, ließ man eine »Krankenschwester« (die Hand des Zauberers) auftreten. Ihre Aufgabe war es, Ordnung zu schaffen. Sie sammelte alle Karten unter Beibehaltung der Reihenfolge – das war entscheidend – ein und legte den Stapel mit der Bildseite nach unten auf den Tisch. Der »Trick« war nun, daß alle Zuschauer einmal abheben durften. Danach klopfte der Zauberer auf den durchs Abheben vermeintlich durchmischten Stapel und ließ die »Krankenschwester« die »Zimmer« neu belegen: Erste Karte in »Zimmer« eins, zweite in zwei, dritte in |82| drei, vierte in vier, fünfte wieder in eins und so weiter. Dabei landeten dann alle Asse in einem Zimmer, ebenso wie die Könige, Damen und Buben. Der Trick war einfach und verblüffend.
Bei einer Zaubershow auf einer Kleinkunstbühne hatte Oliver einmal folgenden Zaubertrick zu sehen bekommen: Drei unterschiedlich lange Schnüre wurden auf gleiche Länge gebracht, miteinander verknotet und durch »Verschiebung« des Knotens wieder verlängert beziehungsweise verkürzt. Anschließend durfte Oliver (er saß in der ersten Reihe) die Schnüre in die Hand nehmen. Sie waren weder dehnbar noch »ausziehbar« noch sonst irgendwie präpariert. Die Geschichte machte ihn wahnsinnig. Wochenlang zerbrach er sich den Kopf darüber, wie die rätselhafte Verkürzung und Verlängerung der Schnüre (einmal ganz abgesehen von dem Trickhöhepunkt des rutschenden Knotens) funktioniert hatte.
Die Geschichte ließ ihm keine Ruhe. Er kaufte sich entsprechende Seidenschnüre und begann herumzuexperimentieren. Do schüttelte den Kopf über seine Bemühungen, weil sie davon überzeugt war, daß die Schnüre
natürlich
präpariert gewesen seien. Oliver habe dies lediglich nicht bemerkt. Aus irgendeinem Grund (vielleicht auch nur, weil er Do das Gegenteil beweisen wollte) war Oliver anderer Meinung. Er kam zu dem Schluß, daß die drei Schnüre ein genaues Längenverhältnis haben mußten, nämlich eins zu zwei zu drei. Und irgendwann begriff er, daß das Geheimnis in einer bestimmten Verschlingung der kürzeren mit der längsten lag. Nach wochenlangem intellektuellem Ringen empfand er ein triumphales Gefühl. |83| Alles fußte auf einem logischen Zusammenhang. Er dachte beim Anblick der Schnüre an die Leibesverknotungen der Liebe. Vielleicht hatte auch ein gelungener Liebeszauber etwas mit der Verschlingung emotionaler und animalischer Persönlichkeitselemente zu tun, die in etwa auf gleiche Länge zu bringen
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