Schroedingers Schlafzimmer
wenn man eine Katze und ein radioaktives Atom, dessen Zerfall einen Pistolenschuß auslöst, der die Katze töten würde, in einen Kasten schließt? Radioaktivität ist ein quantenmechanisches Geschehen und als solches nicht exakt, sondern lediglich unter Verwendung von Wahrscheinlichkeiten vorherzusagen. Die Gleichung, die Schrödinger gefunden hatte, wiederum zeigte, daß quantenmechanische Wahrscheinlichkeiten eine Art Extrakt aus mathematischen Möglichkeitsräumen waren, deren Realitätsgehalt im Rahmen der Theorie insgesamt diffus blieb. Es war überhaupt nicht klar, welchen Status man dem quantenmechanischen Geschehen in dem Kasten mit der Katze zubilligen sollte, wenn man es
nicht
beobachtete. Die Frage führte zu heftigen Streiterein unter den beteiligten Physikern. Schrödinger selbst ging dabei so weit zu behaupten, daß in der Sprache der Mathematik die Katze sowohl tot als auch lebendig sein konnte, solange man den Kasten nicht öffnete. Das klang widersinnig, war aber die konsequente Anwendung einer Interpretation der Quantenmechanik, die unter dem Namen »Kopenhagener Deutung« im großen und ganzen bis heute Gültigkeit besitzt. Atome können in einer Überlagerung von Zuständen existieren, in einer Art unklaren Realität, |107| die erst im Moment der Beobachtung, der Messung, zu einem logischen Element der Wirklichkeit werden muß. Erst das Öffnen des Kastens zwingt die Katze gleichsam, entweder tot oder lebendig zu
sein
. Oder anders gesagt: Ohne die Anwesenheit eines Beobachters ist die Trennung zwischen Leben und Tod möglicherweise eine Illusion.
Balthasar Schrödinger nun, der also behauptete, Erwin Schrödingers unehelicher Enkel zu sein, drückte das alles so aus: »Seit Tschernobyl gehört Radioaktivität ja mehr oder weniger zur Allgemeinbildung. Wenn wir die Kiste gerade erst zugenagelt haben, können wir also ziemlich sicher sein, daß die Katze noch lebt. Aber sobald das Atom zerfällt, stirbt sie. Exitus. – Ich sagte ja, es ist ein ziemlich brutales Experiment. Mein Großvater war aber der Meinung, daß unser Entweder-oder-Denken ein Irrtum ist, dem wir erliegen, weil wir uns nur mit dem Sichtbaren abgeben und nicht mit dem Unsichtbaren. Nicht die Kiste, sondern
wir
sind sozusagen vernagelt. Von der Wirklichkeit. Das Unsichtbare setzt sich aus schillernden Möglichkeiten zusammen, die erst in dem Moment, da wir die Augen öffnen, zu den bleiernen Fakten des Diesseits gerinnen. Vorher ist alles drin, wenn Sie so wollen. – Oliver, Sie sitzen ja auf dem Trockenen … Ich möchte Sie übrigens nicht verwirren, aber die Wissenschaft hat in jüngster Zeit noch einen drauf gesetzt: Was geschieht, wenn wir die Kiste mit dem bedauernswerten Kätzchen öffnen? Die Physiker, diese ausgefuchsten Zahlenjunkies, sind inzwischen der Meinung, daß sich das Universum in dem Moment
teilt
! Das Universum verzweigt sich in zwei Realitäten: |108| In der einen ist die Katze tot und in der anderen lebendig. Das Universum ist keine eingleisige Veranstaltung, sondern ein permanentes pflanzenhaftes Herumwuchern und Weiterverästeln von Möglichkeiten und Parallelrealitäten. Vielleicht hausen in einem anderen Universum hier an dieser Stelle, an der ich stehe, immer noch keulenschwingende Germanen – ist das nicht Wahnsinn? Man nennt das Viele-Welten-Theorie, und die ist unter Physikern wirklich der letzte Schrei, sage ich Ihnen. Wir müssen total umdenken. Platon, Aristoteles – die Wissenschaft war ja von Anfang an so eine Männerveranstaltung. Die hätten mal Sappho ranlassen sollen, wenn Sie mich fragen, Do. Ich bin überzeugt, wenn die Wissenschaft in Frauenhand gewesen wäre, hätten wir die Quantenmechanik bereits vor tausend Jahren entdeckt. Wenn die Geschichten über meinen Großvater stimmen – und dafür bin ich ja der lebendige Beweis – dann hat er Zeitlebens versucht, das Prinzip der Weiblichkeit zu entschlüsseln, und ist dabei auf das vertrackte Einmaleins der Quantenmechanik gestoßen.«
Als er einschenkte, kam es Do vor, als schwenke er die Champagnerflasche über Olivers Glas lediglich einmal hin und her, woraufhin der Flüssigkeitsspiegel (der durch das Kobaltblau des Glases allerdings schwer auszumachen war) wie von selbst anstieg. Dann ging er voraus und führte seine Gäste in einen großzügigen Flur, an dessen Seite eine Treppe in den ersten Stock hinaufführte. Eine ansteigende Galerie aus alten Schwarzweißfotografien säumte den Aufgang, sie zeigten Schrödingers Haus in
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