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Schroedingers Schlafzimmer

Titel: Schroedingers Schlafzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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daß mein Schlafzimmer tabu ist. In meinem Schlafzimmer erarbeite ich meine Kunst. Mein Schlafzimmer ist mein Atelier! In Indien würde man sagen: mein Garbhagriha – mein Schoßhaus, mein Ort der Empfängnis. In Indien versteht man diese Dinge noch. Das Wesen der Kunst ist feminin. Das Gebären. Das Unmögliche möglich werden lassen. Und deswegen brauche ich einen Raum, der fremden Blicken vollkommen verschlossen ist. Einen Uterus. Mit meinem Schlafzimmer ist es ein wenig wie mit dieser Kiste meines Großvaters. Solange niemand an dem Ding rüttelt und den Deckel aufklappt, ist alles möglich. Die bürokratischen Gesetze der Realität haben keine Gültigkeit dort, wo niemand hinsieht, wo niemand |115| sie einfordert! In meinem Schlafzimmer, in meinem Atelier ist
alles
möglich, solange niemand außer mir diese Tür öffnet. Dieses Zimmer, Do«, er wurde pathetisch, »ist die Quelle meiner magischen Kräfte! Dort kann ich ins Leben rufen, was meine Fantasie mir zu sehen erlaubt. Die einzige Grenze dabei bin ich selbst. Mein Schlafzimmer ist mein Traumreich, aber nicht in so einem sentimentalistischen Wabersinn, den man üblicherweise damit verbindet. Was für ein Projekt vielmehr: die Entfaltung der Physik meines Großvaters! Ich will Ihnen nichts vormachen: Ich kann absolut nicht sagen, wie weit ich mit diesem Projekt jemals kommen werde, aber wissen Sie, Do, ich habe solange auf Bühnen herumgezaubert, daß es mich nicht mehr reizt, im Rampenlicht zu stehen und den Menschen ein X für ein U vorzumachen. Es ist einfach an der Zeit, die Grenzen zwischen Möglichem und Unmöglichem niederzureißen. Sehen Sie sich dieses Bild an, Do! Vielleicht hat Oliver recht, und es
ist
Kitsch. Aber was heißt das schon? Wir sehnen uns nach Liebe, nach geheimnisvoller Lust, und ich glaube daran, daß es möglich ist, das Unmögliche zu erreichen. Die erotische Ekstase, wirklich fetzige Sinnlichkeit. Jedesmal wenn ich diesen Raum betrete, betrachte ich dieses Bild und es gibt mir einen Tritt und sagt mir: Es ist möglich, der Zauber, die Liebe, du mußt nur deinen Arsch hochkriegen   …«

|116| 8
    Wie an jedem Mittwoch, so war auch an diesem – dem ersten im Juni – nicht viel los. Oliver saß auf der Beratungscouch im hinteren Teil seines Geschäfts und kritzelte ein paar Zeichnungen in den Skizzenblock, den er in der Schublade des Couchtischs aufbewahrte. Er zeichnete, seit er denken konnte. Als Kind hatte er sich eine Gegenwelt zur Ärmlichkeit des Krabbenhaushalts geschaffen, in dem er aufgewachsen war; er bereiste die Weltmeere mit Papier und Bleistift. Die großen Schiffe (auf denen, wie er glaubte, sein Vater Dienst tat) ankerten in der kleinen Spielecke, die seine herrschsüchtigen pubertierenden Schwestern ihm gnädig ließen. Seine Mutter bewunderte seine sehr minutiösen und realistischen Werke niemals. Die Bilder gingen aber weit über die üblichen zeichnerischen Versuche von Acht- oder Neunjährigen hinaus. Außerdem stand die filigrane, feinschraffierte Natur der winzigen Krabbentierchen, deren Schalen die ganze Familie Tag für Tag zu Tausenden knackte, bei der Entwicklung von Olivers Talent unübersehbar Pate. Trotzdem hatte seine Mutter keinen Sinn dafür. Im Laufe der Jahre perfektionierte er seine Technik des Schraffierens, |117| der Grauabstufung und der perspektivischen Projektion. Aber unterhalb der Schwelle seines zeichnerischen Bewußtseins bereitete sich schließlich eine erste Krise seiner noch ganz naiven künstlerischen Grundwerte vor.
    In späteren Jahren las er einmal, daß ein Schimpanse – von Forschern mit Stiften und Papier zum Zeichnen animiert – schließlich die Stäbe seines Käfigs gemalt hatte. Oliver begriff, daß sein Ehrgeiz, beim Zeichnen (gleichsam krabbenhaft) genau zu sein, in Wahrheit so eine Schimpansen-Beschränkung war. Der Naturalismus war keine Kunst, sondern ein Käfig. Er kaufte sich weiche Kohlestifte, die einen bitteren Duft verströmten, sobald sie mit seinen Fingern in Berührung kamen. Er begann, Konturen und Striche mit der Kuppe des Daumens zu verwischen, verschmierte Schatten, deutete nur noch an. Es war wunderbar. Und es frappierte ihn, daß eine einzelne geschwungene Linie viel größere ästhetische Wirkung entfalten konnte als eine präzise gemalte, sich schaumreich und gischtumsprüht überschlagende Welle.
    Erst jetzt, als er anfing, die zeichnerischen Möglichkeiten auszuloten, die sich mit der Reduktion von Formen verbanden, wurde seine Mutter auf sein

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