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Schroedingers Schlafzimmer

Titel: Schroedingers Schlafzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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den zwanziger Jahren, es hatte einmal allein auf einer weiten, kaum |109| bewachsenen Wiese gestanden wie eine konstruktivistische Apparatur zum Sammeln und Gliedern des Lichts. Auch die Küche wies den Zauberer als vollendeten Minimalisten aus. Kieselgraue Türoberflächen, glänzende Edelstahlgriffe, der Boden gefliest wie ein Schachbrett – die konsequente Einrichtungsstrenge schien Do im Widerspruch zu seinem leutseligen Wesen zu stehen. Schrödinger trat beim besten Willen nicht als Asket auf, sondern jovial, wortreich und sinnlich. Sie folgte ihm durch weitere, sparsam möblierte, von akkurater Systematik geprägte Räume. Und sie dachte, daß es einen Winkel in diesem Haus geben mußte, in dem alles anders war, in dem Schrödinger nicht eine ästhetische Idee verwirklicht hatte, sondern sich selbst.
    Im »Medienzimmer« blieb er andächtig vor einem großen runden Metallzylinder auf Stecknadelfüßen stehen, der sich als Plattenspieler entpuppte. Er legte eine uralte, stark knisternde Caruso-Aufnahme auf und sagte: »Mir soll keiner mit CDs, DVD s, MP3-P layern und all diesem digitalen Schnickschnack kommen! Die Digitalisierung raubt allem die Seele. Auf die Zwischentöne kommt es an, auf die Oberschwingungen, auf das, was zwischen Null und Eins liegt! Hier, schauen Sie sich dieses Schmuckstück an!« Er wies auf ein altes Radiogerät, einen hochformatigen Kasten mit abgerundeten Ecken, parallelen Riefen, die wie Telegrafendrähte das Chassis musterten, und einer zweigeteilten Front mit einem schimmernden grobgewebten Stoffbezug vor dem Lautsprecher und einer stilisierten Großstadt-Skyline als Senderskala darunter. »Das ist ein Wilcox-Gay Röhrenempfänger aus den späten |110| zwanziger Jahren! Das Gehäuse ist aus amerikanischer Walnuß, und die sechs Vakuumröhren im Innern fischen immer noch wunderbare Klänge und Botschaften aus dem Äther. Als Kind habe ich mitten in der Nacht heimlich Radio gehört, voller Faszination für die verrauschten Stimmen aus unvorstellbar weit entfernten Ländern. Ich sage Ihnen, dieses Rauschen und Pfeifen war der Strom, auf dem meine Fantasie auf Reisen ging. Was weiß diese bemitleidenswerte MP3-G eneration heutzutage vom herrlichen Klang des Äthers. Technische Perfektion läßt keinen Platz für die Fantasie. Der digitale Terror verwandelt uns endgültig in stumpfsinnige Diesseitskonsumenten. Das können Sie mir wirklich glauben, Do.«
    Seine stetige Rede strich wie ein gleichmäßiger warmer Wind über die Ebene von Dos Bewußtseins, ohne den leichtesten Gedankenstaub aufzuwirbeln. Dieser vollendet niveauvolle Mann genügte sich ganz und gar selbst. Aus welchen Quellen auch immer er schöpfte – wenn andere zugegen waren, floß er über, und es war nicht möglich, gegen den Strom seiner parlierenden Präsenz anzuschwimmen und zu ihrem Ursprung vorzudringen. Er hatte sich durch seinen Bühnenberuf zu sehr daran gewöhnt, alle Menschen als Zuschauer zu betrachten, die er zu unterhalten und in vollständige Gedankenlosigkeit zu versetzen hatte. Er selbst war der Zaubertrick, den er seinen Gästen vorführte. Und das so perfekt, daß niemand auf die Idee kam, nach dem Individuum hinter der Illusion oder gar nach dem Kern seines Wesens zu fragen. Er zauberte nicht, um andere zu täuschen, sondern um sich selbst zu schützen, um nicht preisgeben zu müssen, wer er war.
    |111| Im oberen Stockwerk gab es neben dem Bad nur zwei Räume: das Schlafzimmer und die Bibliothek. Die andere Hälfte der Fläche wurde von der kreisrunden, nicht überdachten oberen Terrasse beansprucht, die man durch eine zweiflügelige Tür mit Glaseinsatz am Ende des Flurs betrat. Sich stilistisch treu bleibend, hatte Schrödinger zwei altmodische Liegestühle aufgetrieben, die ein wenig verloren auf den kleinen grauen Schwimmbadfliesen herumstanden. Sie waren möglicherweise original, wirkten aber recht kühl und ungemütlich. Erneut begriff Do, daß Schrödinger das Haus nicht als Befriedigungsstätte seiner inneren Bedürfnisse betrachtete, sondern als mächtige ästhetische Illusion, als Tempel für seine Religion der Unerkennbarkeit, des Zweideutigen, der Parallelität von Leben und Tod. Und wie jeder Tempel, so hatte auch dieser sein Allerheiligstes.
    »Diese Tür«, sagte der Zauberer, nachdem er seine Gäste abschließend durch die kleine, aber antiquarisch höchst wertvoll bestückte Bibliothek geführt hatte (unter anderem präsentierte er den beiden mit ehrfürchtigem Stolz eine

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