Schroedingers Schlafzimmer
Werk aufmerksam. Es war, als lägen auf einmal lauter Haarnadeln statt der gewohnten Nordseekrabben auf ihrem Pultisch. Die Veränderung irritierte und verunsicherte sie. Sie lobte Oliver nicht etwa für den erfolgreichen Abstraktionsschritt, sondern klagte auf einmal die frühere Genauigkeit seiner Zeichnungen ein, die sie nie beachtet hatte. Es war ihr vollkommen unmöglich zu begreifen, daß er in Wahrheit sein Talent weiterentwickelte. Vielmehr glaubte sie, |118| er ließe es in der Ungeduld und Lieblosigkeit der Pubertät verfallen – und eigentlich war ihr dieser scheinbare Niedergang sogar recht. Denn daran, daß ihr Jüngster eine künstlerische Laufbahn einschlagen könnte, lag ihr wirklich nichts.
Es gab Momente in Olivers Leben, da verfluchte er die fantasiearme Schicksalsergebenheit seiner Mutter. Und er verfluchte seine arroganten tyrannischen Schwestern, die ihm und seinem suchenden Wesen nicht das geringste Verständnis entgegen brachten. Für sie war Kreativität eine Art Verhaltensabweichung, als solche (in ihren Augen) vielleicht der Homosexualität vergleichbar. Oliver freute sich insgeheim, als ihre Ehen scheiterten. Unterschwellig warf er ihnen und seiner Mutter vor, ihm ihr tiefes Mißtrauen gegen jede Form von individueller Lebensgestaltung eingepflanzt zu haben, denn er bewarb sich nie an einer Kunsthochschule (obwohl er ohne Schwierigkeiten fünf oder sechs Präsentationsmappen hätte zusammenstellen können), sondern wurde Optiker. In späteren Jahren machte er etwas wie eine ererbte Doktrin des gestutzten Lebenswandels dafür verantwortlich, und je älter er wurde, um so mehr empfand er dies so.
Aber er hörte nicht auf zu zeichnen. Er verschlang Unmengen von kommentierten kunsthistorischen Bildbänden, die von den ersten Höhlenzeichnungen bis in die Gegenwart der Malerei reichten. Er entwickelte ein sicheres stilistisches Urteilsvermögen und einen unbestechlichen Geschmack. Er war (zum Beispiel) überzeugt, daß es sich bei Tamara de Lempicka allenfalls um eine Fußnote der Kunstgeschichte handelte. Daß Balthasar Schrödinger |119| ihre Gemälde – in der Moderne zusammengeklaubte Konglomerate dekorativer Stilelemente – verehrte, stempelte ihn in Olivers Augen unwiderruflich zum Banausen.
Überhaupt ging der Zauberer ihm auf die Nerven mit seinem unablässigen Gesülze über Frauen, die von den Männern aus irgendwelchen Gründen angeblich ihrer Freiheit beraubt und unterdrückt worden waren. Was das Unterdrückungsverhältnis zwischen den Geschlechtern anging, hatte Oliver seine eigenen Erfahrungen. Schrödingers Art war eine Masche. Oliver wunderte sich wirklich darüber, daß man sich a) diesen triefenden Charmeurgestus tatsächlich und allen Ernstes zulegen konnte, daß es b) möglich war, diese Rolle ohne mit der Wimper zu zucken durchzuhalten, und das c) offenbar auch noch mit Erfolg. Der letzte Punkt war nicht von der Hand zu weisen. Schrödinger wirkte nicht wie ein erotischer Verlierer, der sich abends in seinem Schlafzimmer nur
vorstellte
, was man haben
müßte
.
Oliver legte den Zeichenblock zur Seite und versuchte sich daran zu erinnern, welche Frauengestalten Schrödinger in seinem Programm aufmarschieren lassen wollte. Salome fiel ihm ein, dann Mata Hari, diese holländische Spionin, und schließlich war da noch eine Renaissance-Kurtisane gewesen: Julia oder Viola oder so ähnlich. Vor ein paar Monaten hatte Oliver sich einen 1 9-Zoll -Kristallbildschirm mit dem sagenhaften Kontrastverhältnis von 1000: 1 und einer Bildhelligkeit von über 900 cd/m 2 geleistet, der wunderbar leuchtende Farben aussandte. Jetzt setzte er sich davor und googelte ›Mata Hari ‹. Zweihundertfünfundneunzigtausend Einträge – das war eine Menge! |120| Laut Wikipedia tauchte Mata Hari 1905 in Paris als indische Tempeltänzerin auf. Ihre Darbietungen, die allesamt mehr oder weniger frei erfunden waren, endeten meistens damit, daß sie die Hüllen fallen ließ. Die Pariser High-Society lag ihr zu Füßen. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere verdiente sie mit ihren Auftritten offenbar ein Vermögen. Das wunderte Oliver, denn soweit er wußte, war Strippen heutzutage ein Job für eingeschleuste Studentinnen aus den ehemaligen Ostblockstaaten.
Er durchsuchte Google nach einem Nacktfoto von Mata Hari, aber offenbar gab es nicht allzu viele davon. Auf einer russischen Webseite wurde er fündig: Demnach hatte Mata Hari eine ziemlich üppige Figur mit dicken Schenkeln und teigigen, etwas zu
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