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Schroedingers Schlafzimmer

Titel: Schroedingers Schlafzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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um
dich

    »Immer weißt
du
alles besser. Immer
du
!«, schrie sie und war den Tränen nahe. Sie standen sich unversöhnlich gegenüber. Vom Boden her wurden sie angestarrt wie zwei Hochseilakrobaten mitten in einem kniffligen Balanceakt.
    »Heute ist nicht
dein
Tag, Jenny!«, wiederholte Oliver. »Geh oder setz dich hin und sei ruhig! Ich zaubere hier für Jonas und seine Freunde und nicht für dich.«
    »Deine Zaubertricks funktionieren ja gar nicht!!« Tränen des Trotzes liefen ihr die Wangen herunter.
    »Weil
du
sie sabotierst.«
    Sie schluchzte, als wäre sie das Opfer einer schreienden Ungerechtigkeit. Oliver konnte nicht fassen, wie theatralisch und weiblich sie war.
    »Was ist sabotieren?«, fragte Jonas.
    Oliver bemühte sich, seine Wut nicht auf seinen ahnungslosen Sohn zu übertragen. So ruhig und väterlich wie möglich sagte er: »Das heißt, daß sie die Zauberkräfte stört.«
    |172| Das wunderte Jonas. »Kann Jenny denn
auch
zaubern?« »Niemand kann zaubern!«, schrie Jenny. »Es sind alles nur
Tricks
. Man wird rein-ge-legt!!«
    »Wissen wir doch längst«, sagte Adrian.
    »So?!«, schrie Oliver. »Das wollen wir doch mal sehen!«
    Sein Körper verlangte nach einem Ventil für die angestaute emotionale Energie. Mit deprimierend sinnloser Vehemenz ergriff er die drei Baumarktschnüre aus steifem rotem Nylon für seinen letzten Trick. Die lautstarke Auseinandersetzung mit Jenny hatte Do angelockt. Sie stand in der Tür und sah ihm dabei zu, wie er die Schnüre seinem Publikum mit nahezu priesterlichem Pathos entgegenhielt. Er spürte ihre Bereitschaft einzugreifen, falls ihm die Situation entgleiten sollte. Alle erwarteten von ihm jetzt einen reibungslos funktionierenden Zaubertrick, und in ihm stieg Übelkeit auf. Irgend etwas, das nach Jod oder überlagerten Äpfeln roch. Er hatte den Trick mit den Schnüren in den vergangenen Wochen mehr in Gedanken als in Wirklichkeit geübt. Sein Unbewußtes hatte ihm einen fatalen Streich gespielt und ihn auf eine bei Licht besehen äußerst fragwürdige Relation vertrauen lassen, die in etwa besagte: Je brillanter ein Trick, um so weniger Übung erfordert er. Jetzt sah er die furchtbare Wahrheit: Entweder man beherrschte einen Trick
im Schlaf
, oder man beherrschte ihn
nicht
. Bei der Schlaufenbildung spürte er, wie widerspenstig, kühl und wächsern das Nylonmaterial war. Die Schnüre schienen seine Fingerkuppen nicht wirklich zu berühren, sondern lediglich mit einem Glättefilm zu überziehen, der sich jederzeit lösen konnte. Er fragte sich: Mußte er die längste Schnur unauffällig |173| durch die Schlaufe der kürzesten ziehen oder umgekehrt? Die Schlaufen, die er formte, schienen ihm einen sublimen Erhängungswunsch zu symbolisieren.
    Eine seiner frühesten Erinnerungen war die an die Aufführung eines Jahreszeiten-Märchens im Kindergarten. Er hatte den Herbst gespielt, beziehungsweise eine Allegorie des Herbstes in Gestalt eines Baumes. Die Blätter an seinen astartig ausgestreckten Armen waren auf der Vorderseite grün und auf der Rückseite rot. Irgendwann mußte er sie herumdrehen, um das Vergehen der Zeit deutlich zu machen. Dabei hatte er ein kurzes, mehr als holprig gereimtes Gedicht aufzusagen: »Ich bin gekommen, um zu malen   / ich, der Herbst, mit seinen Farben.« Vielleicht lag es an der sagenhaft miserablen Qualität der Verse, daß er irgendwann nicht mehr weiterwußte und schweigend dastand, angestarrt von dreißig oder vierzig erwartungsvoll dreinblickenden Erwachsenen. Und da begann er, der Herbst, zu weinen, mit weit ausgestreckten Ästen und auf rot gedrehten Blättern. Seitdem haßte er es, vor Publikum zu stehen. Er sagte sich, daß er es haßte, weil er im Kindergarten traumatisiert worden war.
    Er gab auf und warf die Schnüre zurück auf den Tisch. »Okay, Kinder, finito. Die Show ist vorbei.«
    Die Jungen schwiegen und Jenny stierte hinaus in den gelbgleißenden Garten. Als er in den nachfolgenden Wochen über die Geburtstagsfeier nachdachte, begriff Oliver, daß er in einem geheimen Winkel seines traumatisierten und verletzten Egos erwartet hatte, für seine Ehrlichkeit wenigstens mit Applaus belohnt zu werden. Doch jede Zehntelsekunde der Stille verdoppelte das Ausmaß seiner |174| Niederlage. Er fragte sich, warum man nicht mehr weinen konnte und warum man nicht mehr getröstet wurde? (Dabei wußte er gar nicht, ob er damals, als Kind, als gescheiterter Herbst, überhaupt getröstet worden war.) Er wäre dennoch mit

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