Schroedingers Schlafzimmer
kindlichen Applaus gehört. Vielleicht würden sie ihn ja doch lieben, es waren doch Jungs. Es waren zukünftige Mitstreiter im ewigen Gerangel der Geschlechter.
Er hörte sie jetzt kommen. Laut johlend, sensationsgierig |163| und argusäugig stürmten sie ins Zimmer. Jonas hatte einen Schokoladenschnurrbart und sandige Hände. Seine Locken leuchteten im Sonnenlicht so golden wie die eines Botticelli-Christus. Er war der kleinste von allen. Oliver war auch immer der kleinste gewesen. Irgendwo gab es noch Fotos von seinen Kindergeburtstagen. Er hatte immer in der Schar seiner Freunde gestanden wie eine Delle.
Oliver hatte den Einstieg in sein Programm nicht wirklich vorbereitet. Er hatte lediglich verschiedene Einstiege in Erwägung gezogen und ihre jeweiligen Vor- und Nachteile gegeneinander gestellt. Diese Überlegungen hatten in ihm das Gefühl hinterlassen, er habe das Einstiegsproblem
gelöst
– er hatte sich aber nur damit
befaßt
. Erstaunlicherweise bescherte ihm seine Rolle als Zauberer einen Autoritätsgewinn, mit dem er nicht gerechnet hatte. Die Kinder verstummten und erwarteten von ihm irgend etwas. Vielleicht erwarteten sie, daß er ihnen mit verstellter Stimme etwas Melodramatisches vorspielte und mit den Armen in der Luft herumfuchtelte wie ein Druide oder Medizinmann. Vielleicht wollten sie ein wenig Angst vor ihm haben.
Er räusperte sich. In diesem Moment betrat Jenny, seine zehnjährige Tochter, das Zimmer. Sie überragte alle Kinder um einen Kopf, schob die Hände in die Hosentaschen, ließ die Schultern hängen und machte ein gelangweiltes, hochnäsiges Gesicht. Oliver mißfiel dieses zur Schau gestellte Desinteresse an den Geburtstagsvergnügungen ihres kleinen Bruders sehr. Seit zwei Monaten trug sie ausschließlich Jeans und T-Shirts und weigerte sich, ihre glatten butterblonden Haare zu einem Zopf zusammenzufassen. |164| Kinder trugen Zöpfe, und sie hatte beschlossen, keines mehr zu sein. Sie trug die Haare also offen und in der Mitte gescheitelt und sah aus wie eine Protestsängerin aus den siebziger Jahren. Oliver ärgerte sich darüber, daß sich das präpubertäre Verweigerungsgehabe seiner Tochter bestimmter Symbole aus seiner eigenen Jugendzeit bediente.
Er räusperte sich noch einmal und sagte: »Dann wären ja wohl alle da, wenn ich das richtig sehe, oder?« Anstatt eines laut gebrüllten Jaaaa!’s, das ihm wie aus einem Munde freudig entgegenschallte, erntete er als Antwort auf diese etwas stereotype Begrüßungsformel ein knappes Dutzend asynchroner Mmmhhh’s. Jonas saß ihm gegenüber, und das gefiel ihm nicht so sehr. Sollte er beim Zaubern patzen, würde sein Sohn es als erster und hautnah mitbekommen. Er drehte sich zum Tisch und nahm den achteckigen Kompaß zur Hand. Er hatte das kleine Scheibchen aus geschwärztem Glas in seiner Werkstatt selbst angefertigt, in Form geschliffen und auf der Vorder- und Rückseite jeweils mit einem leuchtend roten Pfeil versehen.
»Das ist ein Kompaß«, sagte er, »ein Zauberkompaß. Wenn man im Wald ist, muß man diesem Pfeil hier folgen, um ans Ziel zu kommen. Gut, das ist ja auch nicht schwer. Zur Sicherheit kann man den Kompaß aber herumdrehen und nachsehen, ob der untere Pfeil in die
gleiche
Richtung weist, wie der obere. Und wie ihr seht,
weist
er in die gleiche Richtung. Es gibt im Wald aber eine Hexe, die den Kompaß mit ihren magischen Kräften stört. Wenn sie ihre Zauberstrahlen aussendet und wir den Kompaß dann auf die Rückseite drehen …«
|165| Die Drehung, die er jetzt ausführte, sollte besonders dramatisch wirken. Durch ein unsichtbares Umgreifen seiner Finger hatte er erreicht, daß der untere Pfeil zunächst um die Ecke und danach in die Gegenrichtung wies. Er freute sich, daß sein Trick funktionierte, aber die Kinder schwiegen. Offenbar war ihnen das Besondere an der Abweichung des unteren Pfeils gar nicht klar. Jonas starrte auf den Zauberkompaß. Er hatte große, teefarbene Augen, die Augen seiner schlichten, duldsamen, ein Leben lang krabbenpulenden Großmutter. Er konnte das von Oliver vor seiner Nasenspitze inszenierte Himmelsrichtungsdrama nicht erfassen. Das Kind spürte aber, daß sein Vater eine angemessene Reaktion von ihm erwartete. Der Druck, unter dem Oliver stand, übertrug sich auf den Jungen, und er fragte zaghaft: »Und warum tut die Hexe so was?«
An dieser Stelle begriff Oliver, was es bedeutete, sein Publikum im Griff zu haben, es nach Belieben zu manipulieren und zu steuern. Er
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