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Schroedingers Schlafzimmer

Titel: Schroedingers Schlafzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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begriff, daß zaubern bedeutete, das Publikum und seine Reaktionen zu einem Teil des Programms zu machen. Aber was er
absolut nicht
begriff, war, was er eigentlich falsch machte? Wie war es möglich, daß sein Sohn nicht verstand, daß das Besondere an dem Kompaßtrick nicht das Verhalten der Hexe war, sondern das des roten Pfeils? Nicht, daß jemand böse war, widersprach den Naturgesetzen, sondern die Behauptung, er verfüge über magische Fernkräfte. Offenbar hatte er unterschätzt, wie selbstverständlich für Kinder Zauberei war.
    Mißmutig beantwortete er die ihm so sinnlos erscheinende Frage seines Sohnes. »Sie ist ja
böse
. Ich meine, böse |166| Hexen tun so was. Die Frage ist doch, wie kriegt sie das hin, die Hexe? Wie erreicht sie es nur, daß der untere Kontrollpfeil plötzlich in eine andere Richtung zeigt als der Hauptpfeil?«
    »Ich glaube, man muß an dem Kompaß drehen«, überlegte der neben Jonas sitzende Adrian. Sein Vater, ein Kulturredakteur, verachtete Optiker, Geschenkartikelverkäuferinnen und alle normalen Menschen, die sich für seinen Job und seine Aufsätze nicht interessierten. Adrian war ein pausbackiger, neunmalkluger Rotzlöffel, der sich jetzt schon für etwas Besseres hielt.
    »Wie?
Drehen
?«, schmetterte Oliver die Bemerkung ab. »Die Hexe ist doch ganz
woanders
. Oder siehst du hier irgendwo eine Hexe?«
    Die Kinder starrten ihn an. Anstatt sie in Erstaunen zu versetzen, hatte er sie eingeschüchtert. Schnell beschwor Oliver einen guten weißbärtigen Zauberer herauf, der sich den bösartigen Umtrieben der Hexe machtvoll in den Weg stellte, ihre Zauberstrahlen neutralisierte und den Kontrollpfeil des Kompasses flugs wieder reparierte. Dann ließ er das handgefertigte Scheibchen verschwinden, nahm das Kartenspiel vom Tisch und blättert vier Stapel mit jeweils einem As, einem König, einer Dame und einem Buben auf den Boden.
    Er erzählte die Geschichte von der »Krankenschwester«, die nun die »Zimmer« neu belegen würde, und sagte: »Wir machen es so: Zum Mischen der Karten darf jeder von euch einmal abheben. Dann könnt ihr sicher sein, daß sie
besonders gut
gemischt sind.«
    Er schob die Kartenfächer vorsichtig zusammen und |167| legte sie mit der Bildseite nach unten auf den Boden. Es war herzig, den Kindern dabei zuzusehen, wie sie durch besonders »durchtriebenes« Abheben versuchten, Einfluß zu nehmen. Manche hoben nur eine oder zwei Karten ab, andere ließen nur eine oder zwei liegen und wieder andere versuchten den Stapel genau in der Mitte zu teilen. In Wahrheit stiegen die Chancen für das Gelingen von Olivers zweitem Trick (und den Erfolg der ganzen Show) jedesmal ein wenig, wenn wieder eine der kleinen schmutzigen Jungenhände die jeweils liegengebliebenen Karten säuberlich auf die zuvor abgehobenen legte.
    Doch dann näherte sich eine Hand dem Stapel, die schlank war und nicht schmutzig. Mit schläfriger Na-wenn’s-sein-muß-Attitüde streckte Jenny ihren dünnen Arm aus. Die manierierte Geste erinnerte Oliver an die Art, mit der Ursel, Dos Mutter, Asche von einer Zigarettenspitze abzuklopfen pflegte. In letzter Zeit fiel ihm häufig auf, daß sich in seiner Tochter nicht etwa seine Gene wirkungsvoll fortgepflanzt hatten, sondern das nikotingeschädigte Erbgut seiner Schwiegermutter. Ursel war Anfang sechzig und würde vermutlich nie aufhören zu rauchen. In zwei Wochen feierte Do Geburtstag. Es war mittlerweile Tradition, daß ihre Mutter den Tag und das Fest zum Anlaß nahm, um nach Berlin zu kommen und sämtliche Haushaltabläufe mit ihren ununterbrochenen egozentrischen Kommentaren und Bewertungen zu garnieren.
    Jenny würde wie ihre Großmutter zu einer attraktiven Frau heranreifen. Ihr Gesicht wurde zunehmend schmaler und die Wangenknochen prägten sich aus. Am meisten |168| verrieten Oliver eine bestimmte Leere des Blicks und ihre sich allmählich absenkenden Mundwinkel, wie sehr die Gene seiner Schwiegermutter sich bei ihr durchgesetzt hatten. Sie ließ beim Karten-Abheben nicht im geringsten jene akribische maskuline Sorgfalt walten, mit der sich die Jungen ans Werk gemacht hatten. Sie teilte den Stapel mit so schlaffen Fingern, daß eine Karte sich beim Transport löste und lautlos auf den Teppichboden fiel.
    »Oh«, sagte sie träge und schob die Karte an einer beliebigen Stelle in den Stapel zurück. Der fundamentale Unterschied zwischen Mischen und Abheben bestand darin, daß beim Abheben die innere Reihenfolge der Karten gar nicht geändert,

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