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Schroedingers Schlafzimmer

Titel: Schroedingers Schlafzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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Kübel gehoben und in die Mülltonne befördert. Dieser letzte grausame Schritt war notwendig gewesen, um eventuellen Krankheitserregern nicht die Chance zu geben, sich im Garten auszubreiten und noch mehr Unheil anzurichten.
    Oliver hörte sich die Mathotiana-Rubra-Geschichte geduldig bis zum Finale an. Die Vorstellung, ein geheimes erotisches Signal mit Helma auszutauschen, war so unglaublich absurd, daß er selbst zwei Gläser Tinto Fino während der Schilderung trank. Danach nagelte ihn Tobias Fleischer fest, sein Steuerberater, der mit millimeterkurz |211| geschnittenem weißgrauen Haar und einem ebenso kurzen Dreitagebart auf Survival-As machte. Er hielt ihm einen längeren Vortrag über Weinreifung in Eichenfässern, bei der auf gar keinen Fall, wie in Spanien leider immer noch üblich, billige amerikanische, sondern nur hochwertige französische Fässer zum Einsatz kommen dürften, wenn man ein komplexes Aroma erreichen wolle, das geschmackvoll und großzügig seine Tannin-Nuancen freigebe und darüber hinaus durch einen strukturierten Nachgeschmack mit fruchtbetontem Hintergrund überzeuge, mit Anklängen an reifes Obst, samtige Schwarzkirsch- und Johannisbeernoten sowie feine Vanille- und Röstaromen.
    Oliver begriff im Verlauf dieses weitschweifigen, pseudoprofessionellen Monologs, daß ihm das Einfädeln einer Liebesaffäre heute Abend nicht gelingen würde. Tobias Fleischers Auslassungen ließen ihm nämlich Zeit, das allmähliche Eintrudeln der Gäste zu beobachten. Dabei wurde ihm schlagartig klar, worin der grundsätzliche Unterschied zwischen seinen Sofa-Fantasien und der aktuell sich manifestierenden Gartenfest-Realität bestand: Jene imaginäre neue Geliebte, die er in seiner Werkstatt ersonnen hatte, war eine ihm völlig unbekannte, ungebundene Frau, eine Art erotische Allrounderin mit unscharfen und verlockend vieldeutigen Attributen. Damit stand sie im krassen Gegensatz zu allen Frauen, die jetzt an der Seite ihrer Männer (die meisten waren verheiratet oder jedenfalls liiert) in den Garten flanierten. Oliver kannte sie alle: Maren Singer, Linda Broschek, Susi Müller-Buchbinder, Heike Degen oder die kleine blauhäutige magersüchtige |212| Bi Odenthal mit ihrem wuchtigen Sportlehrer, der 1984 als Ruderer im olympischen Kader für die Spiele in Los Angeles gestanden hatte und in Amerika also beinahe um olympisches Gold gekämpft hätte, wenn sich die DDR nicht dem Olympiaboykott der Sowjetunion angeschlossen und die Teilnahme an den Spielen abgesagt hätte.
    Während Oliver all diese Frauen in den Garten strömen sah, mit leuchtenden Augen und fliegenden Armen, wurde ihm klar, daß er sich in Wahrheit mit keiner dieser Frauen insgeheim ein Verhältnis wünschte. Alle Liebespartnerinnen, die er je gehabt hatte, waren für ihn fremd und unerforscht gewesen in jenen bangen Stunden voller Unsicherheit und Hitze, als es erstmals dazu gekommen war. Oliver trank sein sechstes oder siebtes Glas Wein auf nüchternen Magen. Und er erkannte eine Regel: Er konnte nur dann eine Frau lieben, wenn er sie entweder überhaupt nicht kannte oder mit ihr verheiratet war.
    Das Durchbrechen der Sphäre längerer freundschaftlicher Vertrautheit hingegen besaß eine inzestuöse Aura. Die Vorstellung gegenüber Bi Odenthal eine Bemerkung fallen zu lassen, aus der sie hätte schließen können, er sei verstärkt daran interessiert, mit ihr in nächster Zeit ins Bett zu gehen (genaugenommen sah sie nicht einmal schlecht aus und sie war kleiner als er), würde ihn mit dem Gefühl, sich peinlichst daneben benommen zu haben, vermutlich noch Wochen und Monate quälen. Und nicht anders würde es ihm mit Helma Kienapfel oder Susi Müller-Buchbinder ergehen, mit Linda Broschek oder Heike Degen: Das ganze System funktionierte nur, weil sie alle voreinander die Tatsache verbargen, hungrige körperliche |213| Wesen zu sein, und sich mit der blendenden Hülle perfekten Glücks tarnten.
    Oliver hakte den Abend also mehr oder weniger ab (wobei ihm irgendwie dämmerte, daß er damit genaugenommen sich selbst abhakte). Jedenfalls spürte er deutlich, daß er die vor ihm liegenden Stunden nicht ohne weitere Mengen Rotwein überstehen würde. So verweilte er einfach an der Bar und unterhielt sich mit den Gästen, wie sie kamen und gingen. Solange eine Batterie schlanker geöffneter Tinto-Fino-Flaschen mit Designeretikett in Griffweite neben ihm stand, würde er einigermaßen über die Runden kommen. Der Flüssigkeitspegel stieg und fiel

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