Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schroedingers Schlafzimmer

Titel: Schroedingers Schlafzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
Vom Netzwerk:
»Als ich 1906 meinen triumphalen Erfolg in Wien gefeiert habe, bin ich Balthis Großvater übrigens ein paar Mal, nun ja, sagen wir: begegnet.«
    Die Récamiere war jetzt von der Bühne verschwunden. Statt dessen hingen farbenprächtige Vorhänge von der Decke und erschufen zusammen mit dem sandgelben Licht dreier Ölfackeln eine realistisch wirkende Wüstenpalastatmosphäre. Salome stand auf der Bühne, zog ihre Jesuslatschen aus und meldete kurz und knapp: »Ich bin bereit, Tetrarch.«
    Sie begann sich zu leisen Handtrommel-Rhythmen und einer eintönig sägenden Schnurgeigen-Tonfolge, die kaum Melodie zu nennen war, zu wiegen. Oliver schwitzte. Er war schon jetzt vollständig paralysiert von dem, was kommen würde. Doch auf einmal näherte sich ein warmer Atem seinem Ohr, und eine rauchige Stimme hauchte: »Sag mal, wie wär’s denn mit einem Fick?«
    Er sagte: »Wie bitte?«
    »Ich verwöhne ihn dir ein bißchen, und dann legen wir los«, flüsterte Mata Hari. »Vielleicht hast du ja noch ein paar unerforschte Vorlieben, denen wir uns widmen können.«
    Der erste Schleier fiel, und eine Andeutung von Nacktheit schimmerte durch die verbliebenen sechs. Oliver sah |234| unschlüssig zur Seite. Mata Haris vielbenutzte Brüste lagen gut sichtbar und nur eine Handspanne von seinem Augapfel entfernt in ihren Metallschalen.
    Sie sagte: »Wir Fantasiewesen halten es im Licht nicht lange aus und müssen uns in der Dunkelheit regenerieren. Nur in meinem Séparée bleibe ich die, die ich bin. Wir können da eine Menge Spaß haben, aber du mußt dich entscheiden, Süßer. Ich werde schwächer, ich muß gehen   …«
    Das Trommeln wurde lauter. Ein Daraboukawirbel untermalte das Fallen des zweiten Schleiers. Mata Hari ging. Olivers Kopf schmerzte. Was für eine Szenerie, dachte er: eine katatonische Renaissancekurtisane mit einem unglücklichen Hang zur Poesie und Philosophie – gefangen in den unlösbaren Verknotungen eines Dialogs über die Unendlichkeit der Liebe; eine blasierte Beduinenprinzessin, die als Preis für ihren teilnahmslos heruntergetanzten Strip einem Heiligen das Haupt würde abschlagen lassen (um kurz darauf ihr eigenes im Gegenzug zu verlieren); und schließlich die Tochter eines holländischen Mehrfachbankrotteurs, deren Armutstrauma sich im Erwachsenenalter als Quelle einer ebenso schlichten wie immergültigen Erkenntnis erweisen sollte, an die sich die spätere Diva (nach einem wenig erfolgreichen bürgerlichen Intermezzo) konsequent gehalten hat: Sex Sells.
    Oliver folgte ihr. Er brachte es nicht fertig, sie ziehen zu lassen. Seine schweißnasse Kleidung drohte ihn mit ihrem schwülen Gewicht zu ersticken. Die Konturen ihres Körpers tauchten in die Dunkelheit. Auf einem Tischchen am Eingang ihres Séparées lag eine schwarze Kladde – eine die
seinen
Namen trug. Und es stand geschrieben (wie er |235| las), daß Mata Haris entmetallisierte Nacktheit auf ihn wartete, mondsilbern und bereit im Indigoreich des Begehrens. Ihr Séparée war das dunkle Innere eines Kastens, und man wußte nie, ob man tot oder lebendig darin war. Aber wie konnte man tot sein, wenn doch etwas geschah?,
das
, auch gut   …

|236| 13
    Do stand im Wohnzimmer und sah hinaus in den Garten. Die letzten Vorbereitungen für ihre Geburtstagsparty waren abgeschlossen, und sie würde bald die ersten Gäste begrüßen können. Sie hatte ein sonderbares Gefühl dabei: Es kam ihr vor, als hätte sie all das schon einmal erlebt, aber aus einer anderen Perspektive. Bei einem normalen Déjà-vu blieb man die, die man war, doch jetzt fragte sie sich, ob man auch ein anderes Wesen dabei sein konnte? Hatte Balthasar Schrödinger nicht einmal gesagt, daß manche Dinge erst durch die Perspektive, durch eine bestimmte Richtung oder Intention bei der Beobachtung Realität gewinnen? Sein Großvater hatte das angeblich herausgefunden. Do war müde und verwirrt; all das war so kompliziert.
    Sie dachte über den eigenartigen Traum nach, den sie in der Nacht zuvor gehabt hatte: Der Zauberer war gekommen, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren. Er trug einen weißen Frack mit einer Pfingstrose im Knopfloch. Ihre dichten Blütenblätter hatten in etwa die gleiche pastellene Farbe wie seine zartrosa schimmernde Gesichtshaut. Sein Geburtstagsgeschenk war mehr als großzügig: Er zeigte |237| ihr seinen Zauberstab und zwinkerte ihr zu. Er erlaube ihr, sagte er, diesen Stab zu benutzen, und zwar ohne jede Einschränkung, ganz gleich, was sie dem Stab

Weitere Kostenlose Bücher