Schroedingers Schlafzimmer
oder die Unterhaltung thematisch auf ein anderes Gleis zu schieben beabsichtigte, wurden immer länger. Do mußte an Ursels notorische Behauptung denken, er nehme seine Medikamente nicht.
»Ist deine Mutter gut angekommen?« fragte er schließlich.
|243| »Ja. Du hättest auch kommen können.«
»Ach nein. Ich bin nicht mehr so mobil.«
»Ihr könntet zusammen kommen.«
»Es gibt Dinge, über die ich mit dir allein reden möchte.«
Do kannte ihn. Hinter der Bemerkung verbarg sich etwas. »Wie meinst du das?«
Er zögerte. »Habe ich ja gesagt. Ich möchte meine Tochter für mich allein haben.«
»Nein. Ich meine, worüber möchtest du
reden
?«
»Das ist nicht so wichtig, Bärchen. Du hast Gäste. Ich will dich nicht aufhalten.«
»Papa.
Worüber
möchtest du mit mir reden?«
»Ach, es ist wirklich nichts«, wehrte er ihre Frage noch einmal müde ab, um dann hinzuzufügen: »Ich sehe in letzter Zeit ab und an Dinge, die ich nicht sehen sollte.«
Do stutzte. »Wie bitte?«
»Ja, es ist sehr eigenartig«, sagte er.
»Mutter behauptet, daß du deine Medikamente nicht nimmst.«
»Das behauptet sie schon seit Jahrzehnten. Mit den Medikamenten hat es nichts zu tun. Es ist egal, ob ich sie nehme oder nicht.«
»Das sagst du. Was sind das denn für Dinge, die du siehst?«
»Das ist es ja eben«, sagte er. »Zum Beispiel sehe ich
dich
hier im Wohnzimmer sitzen, und natürlich weiß ich genau, daß da etwas nicht stimmt, weil du woanders bist. Aber ich kann das, was ich sehe, mit vernünftigen Argumenten nicht zum Verschwinden bringen. Ich sehe sogar |244| Menschen, alte Freunde, weißt du, die schon tot sind. Ich glaube wirklich nicht daran, daß Menschen, die tot sind, zurückkehren können, in welcher Form auch immer. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Bärchen, die Medizin ist heutzutage eine fantastische Wissenschaft. Ich habe vor ein paar Tagen meinen Kopf durchleuchten lassen, mit einer dieser großartigen neuen Maschinen, mit der sie scheibchenweise in uns hineingucken können. Denn soviel war ja klar, daß es irgend etwas mit meinem Kopf zu tun haben mußte.«
»Ja und!?« Do spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Sie hatte den ganzen Tag über nichts gegessen. Oliver sollte sich schuldig fühlen, weil sie abnahm.
Ihr Vater sagte: »Nichts Schlimmes. Ein kleiner Tumor.«
Do war schockiert. Sie schämte sich, weil sie geglaubt hatte, es könne um sie und
ihr
Leiden gehen. »Oh Gott, ist das wahr? Und ich mache auch noch so eine blöde Bemerkung über die Wirkung von Elektrostrahlen. Ich hatte ja keine Ahnung, Papa, ich konnte nicht wissen …«
Er unterbrach sie mit der monotonen Stimme, mit der er ihr früher Märchen und Kinderbücher vorgelesen hatte. »Es ist wirklich nur eine kleine Sache. Sie werden es wegoperieren.«
»Aber wer denn, Papa? Man kann Ärzten nicht trauen. Sie verdienen Geld mit dem, was sie tun. Hast du dir eine zweite Meinung geholt?«
»Wozu denn? Wir haben ein hervorragendes Krankenhaus mit einem ausgezeichneten Ruf. Ihr Großstädter solltet nicht glauben, auf dem Land würde alles mit Sägen |245| und Zangen repariert. Doktor Bosseler versteht sein Handwerk. Mit Ärzten kenne ich mich aus, Bärchen. Er sagt, man muß nur ein kleines Loch bohren, nicht größer als eine Münze, und dann kann er den Tumor rausholen.«
»Du willst dir ein Loch in den Kopf bohren lassen?« Die Vorstellung entsetzte sie. Sie mußte an die roboterhaften Bewegungen denken, mit denen Oliver die Flaschen entkorkt hatte.
»Anders kommt man ans Gehirn nicht ran.«
»Was ist mit Bestrahlungen?«
»Ich dachte, du hast etwas gegen Strahlen.«
»Ich habe etwas gegen … ach, ich weiß nicht. Ich möchte, daß du die Dinge nicht einfach hinnimmst.«
»Ich nehme hin, was nicht zu ändern ist«, sagte er und fuhr nach einer seiner Pausen fort: »Das Seltsame daran ist ja, daß
du
es gewissermaßen bist, die man mir aus dem Kopf schneiden will. Gut, es ist nur eine Halluzination, und doch macht es mir Sorgen. Was sind eigentlich Erinnerungen? Bosseler hat mich beruhigt. Alles, was sie mir rausholen werden, ist ein kirschkerngroßes Stück dunkelgrauer Materie, das auf meine Gehirnwindungen drückt und sie dazu bringt, verrückte Dinge zu produzieren. Ansonsten läuft der Kasten noch ganz gut. Sie bohren ein Loch, holen den Mist raus, und machen das Loch wieder zu. Das ist alles.«
»Weiß Mutter davon?«
»Nein. Und ich wäre dir dankbar, wenn du ihr nichts davon sagen würdest.
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