Schroedingers Schlafzimmer
niemand war so perfekt im Erspüren ungewöhnlicher Stimmungen bei anderen wie Helma Kienapfel. Der Charakter ihres Umarmungsdrucks änderte sich, die optimistische Konstanz wich einer ebenso fest |240| zupackenden, aber sanft modulierenden Kopf-hoch!- Variante, und sie sagte deutlich leiser und mit einer vertraulichen
Entre-nous
-Betonung: »Und natürlich hoffe ich ganz besonders, daß dein neues Lebensjahr in
einer
bestimmten Hinsicht besser wird als das alte!«
Do trug einen klassisch geschnittenen, dunklen Baumwollrock und ein schulterfreies, aber am Hals hochgeschlossenes Oberteil aus schwarz-silbernem Stretch. Sie löste sich von Helma, strich den Rock glatt und sagte: »Das ist lieb von dir Helma, aber das alte Jahr war in
jeder
Hinsicht zufriedenstellend.«
Die Zurechtgewiesene nickte und flüsterte: »Entschuldige Liebste, ich habe verstanden. Wir reden ein andermal drüber.«
»Es
gibt
nichts zu reden. Ich möchte nicht, daß du Dinge denkst, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben.«
Helma sah hinaus in den Garten. Oliver hatte sich an der Bar ein großes Glas Rotwein eingegossen und trank stumm vor sich hin. »Ja, natürlich«, nickte sie. »Ich denke gar nichts. Es war dumm von mir, diese Anspielung zu machen. Verzeih mir!«
Mark trottete heran. Sein faltenloses, schlaffes Gesicht war hinter dem üppigen Blätter- und Blütenmeer eines Rhododendrons verborgen, der aus einem mit buntem Geschenkpapier umwickelten Topf herauswuchs, den er vor sich hertrug. Als er Do erreicht hatte, kippte er die Pflanze zur Seite, um Blickkontakt aufnehmen zu können. Eine Umarmung erübrigte sich, und Do empfing einen schlecht gezielten Kuß, der irgendwo unterhalb ihres Mundwinkels und genaugenommen mehr oder weniger |241| auf ihrem Kinn landete. Sie bedankte sich pflichtschuldig und fügte hinzu, daß der Rhododendron sich im Vorgarten sicher gut machen werde, im Halbschatten des Ginsters vielleicht. Auf dieses Stichwort hin setzte sich Mark wieder in Bewegung, um den Blumenkübel auf der Terrasse abzustellen. Einer gnädigen Fügung folgend, klingelte in diesem Moment das Telefon, und Do konnte sich Helmas Zugriff entziehen. Es war ihr Vater, der ihr zum Geburtstag gratulieren wollte. »Ich stelle dich hoch ins Schlafzimmer«, sagte Do schnell. »Bleib dran, hier unten ist es zu unruhig.«
Sie stieg die Treppe zum ersten Stock hoch. Das Schlafzimmer empfing sie mit wohltuender Ruhe und einer Atmosphäre von beherrschbarer Alltäglichkeit.
»Was soll diese Weiterstellerei«, sagte ihr Vater, nachdem sie sich auf die Bettkante gesetzt und abgehoben hatte. »Wieso habt ihr kein drahtloses Telefon, mit dem man durchs Haus wandern kann? Diese Dinger kosten heutzutage zwanzig Euro oder weniger.«
»Wir benutzen es nur unten«, sagte Do. »Oliver haßt drahtlose Telefone. Er behauptet, daß wir von dem ganzen Elektrosmog allesamt Gehirntumore bekommen werden.«
»Das ist ziemlich übertrieben. Kein Mensch weiß, was diese Wellen mit uns machen. Wahrscheinlich nichts.«
»Rufst du an, um mir das zu sagen?«
»Entschuldige, Doris. Ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag. Ich habe dir zweihundert Euro überwiesen. Kauf dir was Schönes.«
»Danke Papa.«
|242| »Und wie geht es dir?«
»Ach ja, ganz gut.«
»Das klingt wie: schlecht.«
Es überforderte sie, ihre Stimmung zu verbergen und mit Ungezwungenheit zu überspielen. Daß Oliver ein Verhältnis hatte, war schlimm; aber schlimmer war es, daß alle es spürten. Alle errieten, was die Stunde geschlagen hatte. Als Paar hatten sie mehr als zehn Jahre lang nicht von sich reden gemacht; nun schienen sie aus Sicht ihrer Freunde allmählich reif für eine fundamentale Krise zu sein. Und wie jedes Gerücht war auch dieses sehr suggestiv. Do spürte, daß sie selbst zu glauben anfing, was wohl alle dachten: daß einer Ehe auf Dauer bestimmte schmerzhafte Vorfälle nicht erspart blieben. Sie unterdrückte den leisen Impuls, gegenüber ihrem Vater ein Geständnis abzulegen. Vielleicht wäre aus seiner männlichen Perspektive etwas Substantielles über Olivers Zustand zu erfahren gewesen, das nicht auf weiblichen Mutmaßungen und Sekundärbeobachtungen beruhte. Aber sie sagte: »Wir bekommen Gäste. Und leider erschlagen einen die Vorbereitungen jedes Mal, noch bevor überhaupt einer eintrudelt.«
Ihr Vater sagte nichts, und in der Leitung wurde es so still, als wäre die Verbindung auf einmal unterbrochen. Die Pausen, in denen er einen neuen Gedanken faßte
Weitere Kostenlose Bücher