Schrottreif
Woche
1. Teil
Am nächsten Vormittag waren Markus und Luís im Laden, kümmerten sich um Kundschaft und Reparaturen. Seppli wanderte in der Werkstatt herum und lauerte auf einen Moment, in dem er hinausschlüpfen und allein eine Runde im Quartier drehen könnte. Sibel war im unteren Stock und säuberte die Ecke mit der Fahrradbekleidung. Valerie saß am Computer in ihrem Büro und betrachtete den Porzellanvogel. Eigentlich hatte sie jede Menge zu tun: Rechnungen bezahlen, die Umsatzzahlen des letzten Monats analysieren, Bestellungen schreiben, den ganzen administrativen Kram, den sie nicht besonders liebte. Daran denkt man natürlich nicht, wenn man ein Geschäft eröffnet, das ging ihr immer durch den Kopf, wenn sie eine solche Schicht Büroarbeit einschieben musste. Und daran, mutmaßte sie, war vermutlich Markus mit seinem Laden gescheitert. Im Geschäft ihres Vaters hatte die Mutter solche Aufgaben erledigt und Valerie hatte dem gar keine Beachtung geschenkt, nicht registriert, wie aufwendig diese Arbeit war. Fasziniert hatte sie das, was der Papa machte, nicht die Mama, die am Pult saß und schrieb. In ihren Visionen hatte sie an matt glänzende, funkelnagelneue Räder gedacht, die ihr förmlich aus den Händen gerissen würden, an kreativ gestaltete Schaufenster, an professionelle Beratungen und ewig dankbare Kunden, an fantasievolle Aktionen, die massenhaft Leute anlockten. Tja. Und dann saß man da, machte Lohnabrechnungen, suchte Unterlagen für die Steuererklärung zusammen oder verpackte 3.000 Prospekte in 3.000 Briefumschläge. Im Grunde war sie daran gewöhnt. Und die kreative Arbeit kam ja nicht zu kurz.
Aber heute hatte sie für beides keinen Nerv. Der letzte Schrecken hatte sich zwar aufgelöst. Adele war wieder da. Wahrscheinlich bekam sie jetzt von ihren Eltern sogar ein Handy, nicht als Luxusaccessoire, sondern mehr als Ortungsgerät. Aber alles andere war nach wie vor ungeklärt. Der Mord an Tschudi. Und die Todesumstände des zweiten Opfers, Frau Zweifel. Ein Herzanfall, das konnte passieren bei alten Leuten, selbst wenn sie kein besonders schwaches Herz hatten; einfach weil sie alt waren. Frau Zweifels Herz war 80 Jahre alt gewesen. Möglicherweise war sie nach der Gehirnerschütterung zu früh aufgestanden. Niemand hatte sie hinausgehen sehen. Aber vielleicht hatte sie etwas erlebt, was für ihr Herz zu viel gewesen war. Jemand – der mit den Tritten? – hatte Frau Zweifels Wohnungsschlüssel genommen, hatte aus ihrer Wohnung das Notebook geholt und ihr die Schlüssel in die Manteltasche zurückgesteckt. Warum eigentlich diese Mühe? Oder war jemand anders in der Wohnung gewesen? Raffaela Zweifel besaß einen Schlüssel wie auch die Frau von der Spitex und bei einer Nachbarin war ebenfalls einer deponiert, für alle Fälle.
Der Laptop. Dort waren vermutlich die Aufnahmen gespeichert, die Frau Zweifel an jenem Mittwoch im FahrGut gemacht hatte. Das heißt … Ganz langsam begann Valerie etwas zu dämmern. Sie hatten doch miteinander gesprochen … Was hatte Frau Zweifel nur erzählt? Ein Passwort … ein Kabel, das nicht funktionierte … kein Outlook. Ja, das war es! Frau Zweifel hatte kein E-Mail-Programm. Sie verwaltete ihre Nachrichten online. Sie hatte eine Bluewin-Adresse. Valerie ging auf die Homepage des Anbieters. Tippte Frau Zweifels E-Mail-Adresse ein. Jetzt müsste sie ihr Passwort kennen und sie wäre drin. Könnte sich die Fotos und Videos anschauen. Ihr Gespräch über die Vergesslichkeit, über Kennwörter kam ihr in den Sinn. Das Foucaultsche Pendel … Jacopo Belbo … Casaubon, wie er Dutzende von Versuchen macht. Bis er schließlich einfach die Frage, die das System ihm stellt, richtig beantwortet. Und schon hat er Zugang zu Jacopos Dateien. Aber bei Bluewin stand einfach ›Passwort‹. Keine Frage. Nichts, was eine verborgene Information beinhalten könnte. Valerie begann, sinnlos Begriffe einzutippen, ohne sich wirklich zu überlegen, was sie da machte. Dann stoppte sie. Wenn ihr das gelingen sollte, musste sie systematisch vorgehen. Durfte sie das überhaupt? Meine eigene Spur, ging es ihr zum wiederholten Mal durch den Kopf. Ach was, schadet doch nichts, wenn ich es versuche. Klappt ja wahrscheinlich sowieso nicht. Sie dachte nach. Ließ das Gespräch mit Frau Zweifel nochmals Revue passieren. Startete weitere Versuche. Sie hatten über Vergesslichkeit geredet. Über Wortspiele. Über ein passendes Wort. Über Anagramme. Sie unternahm einen weiteren Versuch.
Weitere Kostenlose Bücher