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Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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schlüpfte in seinen Mantel, ging zur Toilette, wo er beim Waschbecken das Wasser aufdrehte und sich frisierte. Immer wieder hielt er den Kamm unter das Wasser und zog ihn durch das Haar, bis es klatschnaß, ohne sich irgendwo zu kräuseln oder wegzustehen, auf seinem Kopf klebte. Einige Tropfen rannen sein Gesicht herunter. Mit dem Taschentuch wischte er sich das Gesicht ab, dann ging er ins Gasthaus »Zum Hirschen«, zu Fuß, sein Auto sollte dort nicht gesehen werden. Nicht wegen der Nummerntafel, die war gereinigt, sondern weil ihm daran gelegen war, daß man nicht wußte, daß er dort war.
    Um diese Uhrzeit befand sich kein Gast im Schankraum, König hatte befürchtet, daß durch die Arbeitslosigkeit – aber andererseits, jetzt schauten alle viel mehr auf ihr Geld. Verena Hrdlicka, die Kellnerin des »Hirschen«, die alleine an einem Tisch saß und Zeitung las, war ehrlich gerührt, als Dolfi sie mein Engel nannte. Wie oft hatte sie sich danach gesehnt, daß er mehr Zärtlichkeit zeigen könne. Ist er verrückt geworden? Engel? Jetzt mußte er an die alte Nemec denken. Sie ist verrückt geworden, sagte er. Wer? Die Nemec, sie hat Visionen. König nahm Verena an der Hand und zog sie ins Extrazimmer, das er dann von innen versperrte. Verena merkte, daß, obwohl alles so war wie immer, etwas anders war als sonst. Aber was? Sie spürte sein nasses Haar an ihrem Nacken, an ihrem Kragen, wie ein tränenüberströmtes Gesicht.
    Nicht so, Dolfi, so kann ich ja dein Gsicht nicht sehen.
    Ah was, Gsicht.
18.
    Endlich hatte er auf alle Fragen eine Antwort. Damit waren alle Ungewißheiten, alles, was vorher war, hinfällig geworden. Was er gelernt hatte, was er gelehrt, was er diskutiert hatte. Was er gelesen hatte und so erzählen konnte, als hätte er es erlebt. Was er erlebt hatte und erzählen konnte, daß er selbst glaubte, er hätte es gelesen. Alles hinfällig. Die eine Antwort lautete: Ich weiß es nicht.
    Der Druck einer Revolvermündung in seinem Rücken. Es fühlte sich nicht anders an als ein ausgestreckter Zeigefinger. Ein Finger oder eine Waffe. Es machte keinen Unterschied. Er stand auf der Straße vor seinem Haus und hörte den kurzen Befehl, leise, bestimmt, als wäre die Stimme nur in seinem Kopf. Einsteigen! Er wurde von hier weggebracht. Warum? Ich weiß es nicht. Mit einem Mal war sein Leben völlig verändert. Warum? Ich weiß es nicht. Was wird nun sein? Ich weiß es nicht.
    Er wird sich, kein Zweifel, am Ende an einem Ort finden, den er nicht kennt, ohne zu wissen, wie lange er dort würde bleiben müssen, was er dort tun könnte oder sollte. Was wird das sein? Eine schockartige Einschulung in Realismus? Ich weiß es nicht. Der Druck in seinem Rücken wurde stärker. Kein Druck, es war ein Schlag in seinen Rücken. Was ist, steigste nun ein, oder nicht? Er sah das Auto, die offene Wagentür. Warum? Am liebsten wäre er unsichtbar, körperlos in sein Haus zurückgegangen, aber er wagte es nicht einmal, sich umzudrehen und zurückzublicken.
    Nein, das war kein Revolverlauf in seinem Rücken, sondern wirklich nur ein Finger, keine Entführer, das waren seine Freunde, die ihn zum Flughafen brachten. Daß er so plötzlich heimflog. Warum? Er dachte: Ich weiß es nicht. Wann kommst du wieder? Er dachte: Ich weiß es nicht. Bald! Er stand da, vor diesem Auto, dachte plötzlich, daß er doch noch eine Woche bräuchte, zumindest drei Tage, wenigstens noch einen einzigen Tag, fast hätte er um die Gewährung einer letzten kleinen Frist gebettelt. Was er alles verabsäumt, vergessen hatte, noch erledigen müßte, wen er noch treffen oder wenigstens anrufen sollte, was er noch einmal sehen müßte, filmen, dokumentieren, festhalten, er müßte noch viel mehr festhalten, um sich davon trennen zu können. Was ist, Roman, steigste nun ein, oder nicht? Der ausgestreckte Finger, der sich in seinen Rücken bohrte. Lachen. Du versäumst noch deinen Flug. Diese Aufgekratztheit, die Launigkeit der Freunde legte sich wie eine glänzende Patina auf seine Melancholie.
    Nein. In Wahrheit fuhr er alleine zum Flughafen. Welche Freunde. Es hatte sich doch schon längst alles erledigt. Er hatte zwar mit dem Gedanken gespielt, sich von Freunden hinbringen zu lassen, aus der Abreise ein kleines Abschiedsfest zu machen, aber dann war dieses Panik-Gefühl gewesen, die Angst vor falschen Tönen, den falschen Gesten, den falschen Gefühlen. Nur ein paar Telefonanrufe, Ja ja, er müsse leider so kurzfristig, aber er werde bald wieder.

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