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Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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oder war es Hohn, als ihm dieser Kugelschreiber, sein eigener, geschenkt wurde?
    Wenn Bruno mit seinem Vater oder seiner Mutter auf dem Schulweg an dem zerstörten Wald vorbeifuhr, war er wohl der einzige in Komprechts, der Genugtuung empfand angesichts des Verschwindens dieses Waldstücks.
7.
    Die Zeit drängte. So wie es war, konnte es nicht bleiben, so wie es gewesen war, konnte es nicht mehr werden. Es mußte etwas geschehen.
    Auch die Nachrichten, die Lokalzeitung, die Adolf König beim Frühstück las, schrieb wieder mit erwartungsvoll höhnischem Unterton, daß es im Mai wohl zu einer Denkzettelwahl kommen werde, bei der in der Steingemeinde Komprechts kein Stein auf dem anderen bleiben werde. Die dürftigen Witzchen der Journalisten. Erst unlängst hatten sie geschrieben, daß sich der Bürgermeister der Glasgemeinde Komprechts als Elefant im Porzellan-Laden erwiesen habe.
    Beim Frühstück auf Journalisten zu schimpfen war Königs Morgensport. Er solle nicht vor dem Kind rauchen, sagte Frau König, im übrigen: Die Zeit drängt. König, der an diesem Tag Bruno zur Schule fahren sollte, war nervös und gereizt. Er wußte noch nicht, daß er schon in wenigen Stunden, nach informellen Gesprächen mit Trisko und Macho, an einer Vision Gefallen finden würde, die schließlich von den Nachrichten als Königsidee gepriesen werden sollte.
    Bruno stand gekrümmt da, die vollgepackte Schultasche wie ein Schneckenhaus auf seinem Rücken, während sein Vater trotzig fertigrauchte und seine Mutter mit vorwurfsvollem Schweigen das Frühstücksgeschirr wegräumte. Im Auto machte sich Bruno auf dem Beifahrersitz ganz klein, die Schultasche nun auf seinem Schoß, und starrte die darauf befestigten Katzenaugen an, als könnte er dadurch üben, einem Blick mannhaft standzuhalten. Erst knapp bevor sie zu dem zerstörten Wald kamen, merkte er auf und sah aus dem Seitenfenster. Plötzlich bremste sein Vater ab und blieb vor dem komischen Steinhaus stehen, dort, wo der zerstörte Wald anfing.
    Hast du schon einmal Engel gesehen?
    Was?
    Ich auch nicht. Aber da sollen welche sein.
    Sein Vater mußte lachen, als er die drei steinernen Statuen sah. Bruno fand sie gar nicht lustig, auch wenn er kurz versuchte, komplizenhaft mitzulachen. Während sein Vater mit der alten Frau sprach, betrachtete er die Engel, die riesenhaft vor ihm aufgerichtet standen, sie flößten ihm Furcht und Schrecken ein, vor allem der größte, der mit den weit aufgespannten Flügeln und dem bedeckten Gesicht, an dessen Körper der Stein, als wäre er flüssig, über Augen und Münder herabrann. Plötzlich ging sein Vater weg, Bruno lief ihm nach, dorthin, wo Männer mit Motorsägen arbeiteten und ein Bagger sich dröhnend in die aufgewühlte Landschaft fraß. Ein kurzes Gespräch zwischen seinem Vater und dem Baggerführer, und dann wurde Bruno Zeuge eines rätselhaften Geschehens.
    Der Bagger kam zu dem Haus der alten Frau gefahren, lud einen Engel auf die Baggerschaufel, fuhr um das Haus herum zum Steinbruch und kippte den Engel in die Tiefe. Das wiederholte er, bis alle drei Statuen, in unzählige Teile zerbrochen, als Geröll in der Sohle des Steinbruchs lagen.
    Dann stiegen Bruno und sein Vater wieder ins Auto ein und fuhren weiter nach Schruns. Schon während der Fahrt veränderten sich die Erinnerungsbilder des Gesehenen, die in Brunos Kopf abliefen. Im Grunde änderte sich nur das Tempo, das immer stärker zu Zeitlupe wurde, und am Ende sah Bruno die tonnenschweren Steinengel langsam und leicht in die Tiefe hinabschweben.
    Vor der Schule beugte sich Adolf König zu seinem Sohn hinüber und wollte ihm, bevor er ausstieg, einen Kuß auf die Wange geben. Bruno wandte den Kopf ab. König gab ihm scherzhaft einen leichten Faustschlag auf den Oberarm. Machs gut, James Bond! Dann fuhr er zurück nach Komprechts, irgend etwas mußte geschehen, und es würde auch etwas geschehen.
8.
    Daß seine Mutter so fett geworden war, hatte nicht nur etwas Lächerliches, es hatte, wie er beklommen merkte, auch etwas Bedrohliches: Ihr so radikal sich ausweitender Körper schien zu signalisieren, daß sie bald sogar den großen erwachsenen Sohn sich wieder einverleiben könne, nicht mehr lange, und diese spätberufene Glucke würde das Leben wieder in sich zurücknehmen, das sie einst geschenkt hatte.
    Roman wollte sich unbemerkt zurückziehen, aber es war zu spät. Die nach hinten geklappten Beine von Richard und seiner Mutter schnellten nach vorn, rot und rund ging das

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