Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
Vom Netzwerk:
man es im überfüllten Wartezimmer eines Arztes hatte, ins Unendliche ausgedehnt. Und die Brettspiele! Schau links, schau rechts, schau geradeaus, dann kommst du sicher gut nach Haus – Unser Verkehrsspiel, ein Brettspiel, das Verkehrssituationen simulierte. Sieger wurde, wer die kleinen Kegelfiguren seiner Farbe als erster durch die Gefahren der Großstadtstraßen hindurch heil nach Hause gebracht hatte. Ein idiotisches Spiel, an dem nichts stimmte. Er mußte die Schachtel gar nicht öffnen, um sich plötzlich daran zu erinnern, wie blöd er es gefunden hatte, daß, wer bei einer roten Ampel brav wartete, danach drei Felder vorrücken durfte, während aber ein Spieler, der bei Rot weiterzog, einmal aussetzen mußte. Einige Ausgaben der Zeitschrift des Buchklubs der Jugend, ein Schundheft, das eine Kampagne gegen die sogenannten amerikanischen Schundhefte führte. In seiner Volksschulzeit war die ganze Klasse Zwangsmitglied beim Buchklub gewesen, Artikel und Geschichten in dieser Zeitschrift wurden immer wieder mit der Lehrerin im Unterricht gelesen. Die Muttertagsüberraschung. Zwei Buben beschließen, ihrer Mutter am Muttertag damit eine Freude zu machen, daß sie, während sie noch schläft, das Frühstück machen. Diese Idioten schauen im Kochbuch nach, wie man Eier kocht, was sie in einem offensichtlichen Idioten- Kochbuch auch tatsächlich beschrieben finden. Nachdem sie die Eier vorschriftsgemäß vier Minuten kochen ließen, lesen sie, daß man sie jetzt aus dem Wasser heben und abschrecken müsse. Daraufhin beginnen sie herumzubrüllen, wovon die Mutter aufwacht, die in die Küche kommt, natürlich bevor das Frühstück fertig ist. Alles schiefgegangen, und doch: Die Mutter ist glücklich. Bei »abschrecken« habt ihr an »erschrecken« gedacht? So ein lustiges Mißverständnis! Macht nichts! Man lernt eben nie aus und Der gute Wille zählt fürs Werk!
    Für wie blöd hatten sie die Kinder gehalten? Diese Nazi-Schweine, die Erschrecken und Schrecken-Verbreiten in allen Bereichen zur Perfektion gebracht hatten, und dann, notdürftig umerzogen, sich als pädagogisch wertvolle Wiederaufbauer austoben durften, nach dem Motto: So ein lustiges Mißverständnis! Diese Meister des Verkehrsspiels! Da waren sie Spezialisten: Rot und Grün ergibt Braun – Warten und vorrücken, und aussetzen lassen!
    So sah er das. Aber damals? Es hatte bei ihm nicht funktioniert, das wußte er. War er schon damals ein Apperzeptionsverweigerer gewesen, ein gleichsam beschichtetes Kind, an dem die Realität abrann? Revoltiert hatte er ja nicht, Stundenlang hast du in deiner Ecke spielen können, so ein braves Kind, er hatte in die Luft geschaut, auf irgend etwas gewartet, irgend etwas phantasiert. Erlösungsphantasien, und was konnte die Erlösung anderes sein als ein profundes Vergessen, Bilder, die nichts mehr bedeuteten?
    Das Zimmer war zu eng und zu klein, um durch Auf- und Abgehen die innere Spannung ablassen zu können, so klein, daß sogar er eingesehen hatte, daß es besser wäre, hier drinnen, wo er auch schlafen mußte, nicht zu rauchen. Er ging in den Hof, zündete sich eine Zigarette an, am liebsten hätte er seinen Kopf gegen die Hauswand geschlagen, statt dessen starrte er, ohne daß es ihm bewußt geworden wäre, so apathisch vor sich hin wie das Kind, das er vor Augen hatte.
    Nun war das Zeug aus seinem Zimmer weg, inklusive dem Bananen-Bild an der Wand, seine Mutter hatte alles schmollend irgendwo verstaut, weiß Gott wo, er hatte nur gesagt, er werfe es auf den Müll, wenn es bis zum Abend nicht verschwunden sei, und ist zu seinem Hochsitz gegangen.
    In den nächsten Tagen hatte er seine Videokassetten in das Regal geräumt, ein Videogerät und einen Fernseher auf dem kleinen Tisch aufgebaut – zum Schreiben war da jetzt kein Platz mehr – und ein kleines Tonbandgerät, mit dem er mitgebrachte brasilianische Musik abspielte, was er aber bald unterließ, weil ihn diese Musik auf eine so sinnlose, verlogene, dumpfe Weise schwermütig machte, als wäre sie das Echo aus dem verlorenen Paradies, während er nur allzu gut wußte, daß er bei seiner Abreise aus Brasilien ein Gefühl der Erleichterung empfunden hätte, wenn seine Gefühle imstande gewesen wären, einigermaßen mit seinem Denken Schritt zu halten. Hätte er vielleicht kleine brasilianische Menschen zeugen sollen, die sich wie blöde Sonnenölsardinen angegriffen hätten, auf den Stränden, zu denen ihn die Frau, der er gerade noch entkommen ist, pausenlos

Weitere Kostenlose Bücher