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Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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zu rauchen auf. Er hörte, wie er ja sagte.
    Das unterschreibst du mir , ihre Stimme wurde nun schrill, Das unterschreibst du mir , immer wieder, sie lief hinaus, kam mit der Badezimmerwaage zurück, sie stellte sich auf die Waage, Romy komm schau so schau doch wie schwer bin ich Ricky komm du bist mein Zeuge!, Papier, ein Kugelschreiber, Minus sechs Kilo was sind sechs Kilo die Kilos sind praktisch schon weg jetzt in dieser Sekunde beginnen sie schon wegzuschmelzen ich laß mich doch von dir nicht und du hörst mir zum Rauchen auf darauf kannst du Gift nehmen! Roman schlug ein paarmal ganz rasch die Augenlider auf und nieder, dann sah er einen Notizblock, Zeichen darauf, die er nicht entziffern konnte, er starrte sie an, seine Mutter hatte stenographiert. Hier! Er nahm den Kugelschreiber und setzte seinen Namen auf die Stelle des Blattes, auf die seine Mutter mit dem Zeigefinger hingetippt hatte.
    Als seine Mutter und Richard gegangen waren, ließ sich Roman in den großen braunen Lehnsessel fallen, so wuchtig, daß die Lehne ein Stück zurückklappte und von unterhalb des Sessels eine eingebaute Fußstütze nach vorn sprang. Er lag in diesem Sessel wie ein lebloser Gegenstand in einem Futteral. Dann setzte er sich wieder auf, die Lehne glitt in die aufrechte Position, und die Fußstütze klappte nach unten weg. Neben dem Sessel stand ein großer Weidenkorb, in dem sich Zeitungen, Bücher und Wollknäuel befanden. Obenauf das Buch Vital durch Yoga. Er nahm dieses Buch aus dem Korb heraus, warf seinen Oberkörper zurück, in Erwartung, daß die Lehne wieder nach hinten kippen würde. Sie tat es aber nicht, und er spürte einen Erschütterungsschmerz im Rücken, als hätte er einen Faustschlag zwischen die Schulterblätter bekommen.
    Die Rückseite des Buches versprach Eine Einführung in Geist und Techniken des Yoga, speziell für die Menschen in der modernen Zivilisation. Seine Mutter und Richard, dachte er, konnten sich selbst doch nicht im Ernst speziell als Menschen in der modernen Zivilisation verstehen. Er wollte sich bequemer zurechtsetzen, da kippte die Sessellehne wieder in die Liegeposition.
    Wenn er irgend etwas zu tun gewußt hätte, er hätte es getan, hätte seine Futteralexistenz verlassen. Oder wenn er es ertragen hätte, seine Augen zu schließen, er hätte sie geschlossen.
    Er blätterte in dem Buch, da waren Abbildungen verschiedener Yoga-Stellungen, sogenannter Âsanas, die im einzelnen beschrieben wurden. Plötzlich fand er ein Bild, das genau die Stellung zeigte, bei der er die beiden in der Früh gesehen hatte. Sie hieß Der Pflug.
    Nun schloß er die Augen. Vielleicht war das wirklich ein Charakteristikum für den Menschen in der modernen Zivilisation: daß man mit emphatischem Glauben aberwitzige Zusammenhänge knüpfen muß, um ein Koordinatensystem zu bilden in der Leere, die man sonst nicht ertragen würde. Und so macht man dann zum Beispiel glücklich die Yoga-Stellung Pflug, bevor man hinausgeht zum Pflügen.
    Wie lange lag er so da? Nicht annähernd so lange, wie er glaubte. Bald ging er in sein Zimmer, legte eine Kassette in seinen Videorecorder ein, Aufnahmen, die er vom Hochsitz aus gemacht hatte, dann nahm er den Papierumschlag aus seiner Aktentasche und schüttete den Inhalt über sein Bett. Schilling, D-Mark, US-Dollar, ein Sparbuch. Alles, was geblieben ist vom Verdienst der vergangenen Jahre. Die weißen Birkenstämme am See vor dem grauen Himmel, auffliegende Vögel, was für Vögel? Vögel. Er zählte sein Geld. Ununterbrochen langsame Schwenks über die Lichtung, den See, die Wiese, wie ein Suchscheinwerfer, der in monotoner Regelmäßigkeit immer wieder über ein Stück Grenze wandert. Er zählte sein Geld, kalkulierte, bis es auf dem Bildschirm nur noch flimmerte.
9.
    Lieber Norbert!
    Stell Dir vor, Du wirst plötzlich an einen Ort deportiert, den Du nicht kennst und wo Du nichts von all dem verstehst, was Du siehst oder erlebst oder erfährst, und Du hast keine Ahnung, für wie lange Du Dich hier einrichten und was Du hier machen sollst – Du bekommst dann eine Vorstellung, wie ich mich hier fühle. Es ist in diesem Komprechts tatsächlich alles rätselhaft und unverständlich. Es gibt zum Beispiel in der Nähe einen Steinbruch, zu dem ich manchmal hinspaziere, weil er etwas wirklich Beeindruckendes hat: Diese breite, schwindelerregend tiefe und sich nach unten verjüngende Öffnung in der Erdkruste wirkt mit ihren Terrassen und steil abfallenden steinernen Wänden wie

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