Schubumkehr
bezahlen, damit sie sich ihre früheren Arbeitsplätze anschauen dürfen, ja?
Noch nie hatte sich König so hilflos gefühlt. Er war von Irren umgeben. Das würde keine Rolle spielen, solange sie täten, was er sagte. Aber es macht ja jetzt jeder, was er will, jeder kommt mit irgendwelchen Ideen, eine dümmer und gemeingefährlicher als die andere, aber er hatte die Verantwortung.
Natürlich konnte niemand dem Gedankengang Königs folgen, als dieser plötzlich rief: Das ist die Anarchie, und ich habe die Verantwortung! Daraufhin sprang Medwed erschrocken auf, griff König auf den Oberarm und raunte: Vertagen, Dolfi, vertagen! König, völlig außer sich, wollte die Hand abwehren, die er plötzlich auf seinem Arm spürte, dabei traf er Medwed mit der Rückseite seiner Rechten mitten ins Gesicht, so daß dieser zurücktaumelte und, den Handrücken unter seine blutende Nase haltend, sich stöhnend an die Wand lehnte.
Die Sitzung wurde vertagt, mit einem Ernst, der der Situation angemessen war, in der sich die Gemeinde befand.
5.
Daß er sich mit Richard gut verstand – wesentlich auf der Basis einer Wortkargheit, die sie überraschenderweise beide nicht belastete –, erleichterte Roman, änderte aber nichts an dem Sachverhalt, daß er im Grunde alles hier verachtete. Was konnte aus einem Leben auf diesem Bauernhof schon werden? Nichts als ein kontinuierliches Altern im gleichförmigen Rhythmus der Jahreszeiten, mit der aberwitzigen Genugtuung am Ende, daß man wohl nicht so alt geworden wäre, wenn man nicht so gesund und natürlich gelebt hätte. Wie groß mußte die Angst der Menschen vor dem Tod sein, wenn sie sogar bereit waren, schwerer als nötig zu arbeiten, weil sie sich davon nichts anderes als die Verlängerung der Lebensarbeitszeit erhofften?
Wenn es nur das wäre. Aber das bäuerliche Leben seiner Mutter machte auch alles, was vorher war, so verächtlich – nicht weil es nun als logische Voraussetzung dieses peinlichen Bauernhauses erschien, sondern weil es dies eben nicht war, und daher so abgeschlossen und beziehungslos, so falsch und verquer hier musealisiert und aufbewahrt war.
Er hatte zwei, drei Stunden in seinem Zimmer zwischen dem hier ausgestellten Kindheitsgerümpel verbracht, aber es hatte keine Sekunde gegeben, in der es Rührung, Sentimentalität, eine glückliche, aus dem Vergessen sich herausschälende Übereinstimmung mit sich selbst gegeben hätte. Nur Haß und Verachtung, Gefühle der Peinlichkeit und des Gepeinigt-worden-Seins. Wenn ihn bisher etwas glücklich gemacht beziehungsweise in einem Lebensgleichgewicht gehalten hatte, dann war es die Tatsache, daß er sich so schwer tat mit dem Erinnern. Er hatte nie etwas vermißt, wenn er vergaß, und auch nie etwas Vergessenes für etwas anderes verantwortlich gemacht. Diese ganze Geschichte mit dem sogenannten Geprägt-Sein hielt er für eine Ausrede. Die Kindheit präjudiziert gar nichts. Irgendwann stellt man fest, daß man auf der Welt ist, zwar ein beschriebenes Blatt – das man aber nie mehr durchliest. Und nun hatte er es vor Augen. Sein Matador-Baukasten. Wie stolz die Mutter immer war, weil er so ordentlich, so etepetete damit umgegangen ist, nie lag ein Teil irgendwo herum oder ging verloren, alles an seinem Platz, in Wahrheit war ihr lediglich nicht aufgefallen, daß er nie damit spielte – weil sie ja nie mit ihm, ihrem Sohn, gespielt hatte. Als sein Vater gestorben war, hatte sie arbeiten gehen müssen, aber was hatte sie vorher gemacht, als sie noch zu Hause gewesen ist? Was hatte sie gemacht, außer zu sagen: Spiel schön, Romy!? Aber angetanzt ist sie mit der größten Ausführung, die es von Matador gab, ein pädagogisch sinnvolles, ein konstruktives Spielzeug, aus Vollholz – hatte sich damals schon ihr biologischer Wahnsinn angekündigt? Spiel schön! Er öffnete die Schachtel und betrachtete die Holzklötze mit den Löchern, die Stifte, mit denen man sie zusammenstecken konnte, selbst der kleine Hammer und das Gerät, mit dem man die Stifte wieder aus den Klötzen ziehen konnte, alles war an seinem Platz, nichts fehlte. Was hätte er damit bauen sollen? Die Welt mit kleinen groben Klötzen nachzubauen, hatte ihn nicht interessiert, und um seine eigene Welt zu bauen, hatte es genügt, in die Luft zu schauen und zu träumen – ihm war, als käme flutartig das Gefühl in ihm hoch, das seine ganze Kindheit geprägt hatte: das Gefühl eines ewigen, fast aussichtslosen, leeren und blinden Wartens, das Gefühl, wie
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