Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
Vom Netzwerk:
lächelnde Gesicht der Mutter vor Roman auf. Er fand es wenig tröstlich, daß ihr selbst die Tatsache, daß sie frühmorgens Yoga-Übungen machten, ihm gegenüber ein wenig peinlich zu sein schien, denn immerhin hatte sie ihn damit noch nicht zu missionieren versucht, und auch jetzt, nachdem er sie dabei ertappt hatte, ersetzte sie das Wort Yoga, erschrocken von dem Gesicht, das er machte, abwechselnd durch Formulierungen wie eine Art autogenes Training, Entspannungsübungen, im Grunde Morgengymnastik, hilflose Umschreibungsversuche, die in sich zusammenbrachen, als Richard kurz und bündig beschied: Wirklich, Yoga ist super!
    Griesgrämig saß Roman beim Frühstück, kaute an seinem Vollkornbrot und nickte zu ihren Erklärungen, wie sehr diese Übungen den Körper fit hielten und den Geist entspannten. Dann legte er die nur halb gegessene Brotscheibe auf seinem Teller ab, fragte, ob es nicht auch Kaffee im Haus gebe, und zündete sich eine Zigarette an. Er bereute es sofort.
    Warum war es so , wie es war? Jeden Tag in der Früh, wenn er aufwachte, war er unschuldig, ein Mann mittleren Alters, wie sie millionenfach zu dieser Stunde die Augen aufschlugen, ihre Träume vergessen haben, einen vertrauten Bettmief rochen, auf eine weiße Wand blickten, auf der das Morgenlicht schimmerte, und mit ein paar Atemzügen eine Grenze überschritten, hinter der sie sich ganz selbstverständlich in einer Realität zu bewegen begannen, in die sie irgendwie hineingewachsen waren. Aber wenn er diese Grenze ins eigentliche Wachsein überschritt, fand er sich jeden Tag aufs neue verblüfft in einem Wahnsystem wieder, ein Rückfall in einen tranceähnlichen Zustand, aus dem ihn kein endgültiges Erwachen, sondern erst wieder der nächste nächtliche Schlaf erlöste.
    Sie habe sich im Büro, als sie noch bei Weixelbaum gearbeitet habe, nur noch von Kaffee und Zigaretten ernährt, ein Wrack sei sie gewesen, ein Wrack, sagte die Mutter. Roman fand es unglaublich, daß Richard dazu nickte. Sie wisse also, was es heiße, sich selbst zu zerstören, aber zum Glück habe sie, und sie fühle sich berechtigt, daß sie, und sie könne nicht mehr mitansehen, wie er, und er möge doch auf sie hören, wenn sie, und sie wisse, und sie glaube, und sie meine, und sie fühle, daß, daß, daß. Dieses gereizte Auf- und Zuschnappen ihres Mundes, als würde sie pausenlos hineinbeißen wollen in den Rauch, den er ausblies, es hatte etwas so Panisches, daß sich mehr noch als die Sorge um seine Gesundheit das Leid ihres eigenen Nikotin-Entzugs darin zeigte. Schau mich an, sagte sie immer wieder, sie habe es auch geschafft, mit dem Rauchen aufzuhören, nun gehe es ihr viel besser, das sehe man doch.
    Vielleicht war es die Zigarette auf fast nüchternen Magen, daß Roman plötzlich den Eindruck hatte, nicht mehr scharf zu sehen, alles ganz verschwommen, seine Mutter schien dadurch noch breiter, auf diffuse Weise noch bedrohlicher, das war kein menschlicher Körper mehr, sondern eine breite weiche Körpermasse, in die ihn der Druck, den er hinter seinen Augen spürte, hineinzudrücken drohte, er sprang auf, so abrupt, daß der Stuhl hinter ihm umfiel, er machte einen Schritt zurück, beinahe wäre er über den Stuhl nach hinten gestolpert, und dann hörte er eine Stimme etwas Ungeheuerliches sagen, es war seine eigene Stimme.
    Nun war es ganz still, er stand in einer lächerlichen Haltung da, schief, die Beine gegrätscht, zwischen denen der umgefallene Stuhl lag, er sah Tränen, waren es die eigenen, durch die er nicht mehr hindurchblicken konnte, oder sah er die Tränen seiner Mutter wie durch einen Zoom allzu knapp vor seinen Augen, panisch versuchte er wieder scharf zu sehen, als hoffte er, daß sich herausstellen werde, daß das alles nicht geschehen ist. Wenn er später an diesen Moment zurückdachte, war das einzige, was er in seiner Erinnerung sah, etwas, das er gar nicht gesehen haben konnte: nämlich sich selbst, wie er in dieser seltsamen Verrenkung dastand, mit dem umgekippten Stuhl zwischen seinen Beinen. Und er hörte die Stimme seiner Mutter, ein Ton, den er bei ihr noch nie gehört hatte: leise, in einem harten Rhythmus, unpersönlich, wie das Ticken einer Uhr, bedrohlicher: das Ticken des Zeitzünders einer Bombe. Ob er, wenn sie in drei Wochen sechs Kilo abnehme, dann aufhören würde zu rauchen? Und noch einmal diese Frage, und noch einmal diese Frage, immer lauter, machen wir ein Geschäft, sie nehme in drei Wochen sechs Kilo ab und er höre

Weitere Kostenlose Bücher