Schuechtern
Bewegung, die Frage blieb unbeantwortet, das Spiel ging weiter.
Etwa ein Jahr später, mit fünfzehn oder sechzehn, war meine Ausbildung zum Schüchternen abgeschlossen. Ich begann, meinen Körper unter sackartigen Kleidungsstücken zu verbergen, damit er mich nicht mit der Geschwätzigkeit seiner Gesten verraten konnte («Beraubt man den Körper seiner natürlichen Form», schreibt Richard Sennett, «so kann er nicht mehr sprechen; wenn man alle Spuren der Natur verwischt, macht man sich gegenüber den Blicken der anderen relativ unverletzlich»). Ich hörte Musik von Menschen, die ebenfalls schüchtern zu sein schienen oder Schüchternheit zumindest zu einem wesentlichen Bestandteil ihres Rollenrepertoires gemacht hatten: Bands wie The Cure, deren Mitglieder sich hinter Kutten, Lippenstift und Haargebirgen verbargen, oder The Smiths, deren Sänger Morrissey sich mit Zeilen wie «Shyness is nice, and/ Shyness can stop you/ From doing all the things in life/ You’d like to» in die pochenden Herzen aller Sozialängstlichen schrieb. Ich lernte, Bumerangs zu bauen, zu werfen und gelegentlich auch zu fangen, und musste mich beim Sport fortan nicht mehr mit Gegnern, Mitspielern oder pfeifenden Zuschauern auseinandersetzen. Ich erkannte, dass ich selbst mein bester Gegner war und damit Gesellschaft genug.
Dennoch war ich nicht allein. Unter anderem hatte ich einen Schulkameraden, eine Art ‹besten Freund›, den mir das Schicksal oder der Zufall oder vielleicht auch einfach nur unser Klassenlehrer zu Beginn der Gymnasialzeit als Tischnachbar zugewiesen hatte und dem ich im Lauf der folgenden neun Jahre nur selten von der Seite wich. Am Anfang eines jeden Schuljahrs fanden wir uns unfehlbar am selben Tisch wieder ein, wie zwei Störche, die aus Afrika zurückkommen und ohne nachzudenken Jahr für Jahr dasselbe Nest ansteuern. In der Oberstufe, als man sich für zwei Wahlpflichtfächer entscheiden musste, wählten wir sogar dieselben Leistungskurse, obwohl unsere jeweiligen ‹Leistungen› in mindestens einem der Kurse eher bescheiden waren. Ich glaube, wir hatten zu diesem Zeitpunkt ein Stadium der Schulfreundschaftssymbiose erreicht, in dem es beinahe undenkbar war, die Bank mit einem anderen Nebensitzer zu teilen.
Dabei waren wir ein ziemlich ungleiches Paar: Er trug stets flamboyante Kleidung in asymmetrischen Schnitten − ich trug die alten Polohemden meines Bruders auf und dazu karierte Jeans (ja, es gab in den Achtzigerjahren tatsächlich karierte Jeans). Er hatte die Haare zu halbmeterhohen Krähennestern aufgetürmt − ich hatte einen Pagenkopf, den meine Mutter mir eigenhändig mit der Küchenschere zurechtstutzte und der wegen seiner Ähnlichkeit mit dem Haarschnitt einer amerikanischen Comic-Figur als ‹Prinz-Eisenherz-Frisur› bezeichnet wurde. Mein Sitznachbar wurde wegen seines Äußeren zwar auch belächelt, schien dabei aber, anders als ich, stets selbstbewusst in sich zu ruhen.
Inzwischen glaube ich, dass unsere Freundschaft, ganz kaltherzig-funktional betrachtet, sich gerade der Tatsache verdankte, dass wir so unterschiedlich waren. Dem Psychologen Ray Crozier zufolge suchen schüchterne Kinder intuitiv «die Nähe des Anführers», um nicht selbst im Mittelpunkt des Interesses stehen zu müssen. Ähnliches gilt, so wage ich zu behaupten, auch für schüchterne Jugendliche und Erwachsene: Da sie nicht gesehen werden wollen, begeben sie sich, bewusst oder unbewusst, in die Nähe einer dominanteren Person, die alle in der Gegend herumschwirrenden Aufmerksamkeitspartikel auf sich zieht und dadurch neutralisiert. Sie werden zum Nebenstern, der durch seine Nachbarschaft zu einer helleren Sonne verblasst. Indem ich mich Jahr für Jahr neben einen auffälligen Mitschüler setzte, wollte ich vermutlich vor allem nicht selbst auffallen. Mein Nebenmann sollte im Licht sein, während ich in seinem Schatten verschwand.
Als ich die zehnte Klasse erreicht hatte, beschloss ich, diese Schattenexistenz zumindest vorübergehend hinter mir zu lassen. Ich tat also, was schon Generationen von Europäern vor mir getan hatten, wenn sie ihres festgefahrenen Da- und Soseins in der Alten Welt überdrüssig waren: Ich ging in die USA. (Gerade habe ich eine alte Kladde wiedergefunden, in der ich meine Ziele für das Auslandsjahr notiert habe: «I want to get more independent and more self-confident», steht da in meiner bauchigen Teenagerschrift und schlechtem Englisch an erster Stelle.)
Das Jahr, das ich als
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