Schuechtern
ich. Als es anfing zu dämmern, hörte ich erleichtert, dass Michelle ihre Seite der Decke zurückschlug, aufstand und leise die Hütte verließ.
Natürlich sah ich sie nie wieder. Ein paar Monate später flog ich zurück nach Deutschland, verschenkte die Ratte, wusch mir die Zuckerkruste aus den Haaren, entfernte nach und nach meine Ohrringe, trug wieder Polohemden mit Stehkragen, und binnen weniger Wochen war ich wieder ganz der Alte. Mit meinem gewohnten sozialen Umfeld kehrte ich in meine gewohnte soziale Rolle zurück. Ich trat der Schultheatergruppe bei, und im darauffolgenden Winter übernahm ich den Part des verklemmten Engländers Mr. Martin in Eugène Ionescos absurdistischem Drama Die kahle Sängerin . Der Schlüsselsatz, den ich in dieser Rolle mit monotoner Stimme meiner Frau, Mrs. Martin, verkünden musste, könnte wie ein Motto über der Nacht mit Michelle wie auch über meinem ganzen Amerika-Aufenthalt stehen: «Vergessen wir alles, Darling, was zwischen uns nicht geschehen ist, […] und leben wir wie zuvor.»
Angesichts dieser Bekenntnisse mag es nicht bloß wie ein Wunder erscheinen, dass ich geboren wurde, sondern wie ein noch viel größeres Wunder, dass ich jemals selbst Vater geworden bin: Schließlich setzt dies, zumindest bei herkömmlichen Methoden der Nachwuchsproduktion, die Existenz einer Frau voraus, die bereit ist, als Mutter zu fungieren; und bevor es soweit kommt, sind meist doch ausführlichere Gespräche und ein intimeres Kennenlernen notwendig, als mir dies am Olallie Lake beschieden war. Zum Glück ist meine Frau nicht annähernd so schüchtern wie ich.
Wir lernten uns am Bahnhof von Hamm in Westfalen kennen, was, wenn man für solch platte Symbolik empfänglich ist, hochemblematisch ist, schließlich werden hier so viele Teilzüge miteinander verkuppelt wie vermutlich auf keinem anderen Bahnhof der Welt (die ICEs aus Düsseldorf und Köln treffen hier aufeinander und fahren nach kurzem Aufenthalt gemeinsam weiter nach Berlin). Wenn wir brav das althergebrachte Drehbuch für patriarchales Balzverhalten befolgt hätten, demzufolge der Mann bei der Partnerschaftsanbahnung die Initiative ergreifen muss, stünde ich vermutlich heute noch dort und suchte nach den richtigen Worten. Vielleicht wäre ich ein stadtbekannter Sonderling geworden, das Faktotum vom Bahnsteig zehn, der wunderliche Alte, der seit Jahren mit gesenktem Kopf am Gleiskörper steht, immer wieder den Kopf hebt und den Mund öffnet, als wollte er etwas sagen, sich dann aber weiter in unergründliches Schweigen hüllt. Vielleicht würde ich vom Bahnpersonal geduldet, da ich mich ja immer zurückhaltend und still verhielte; womöglich würde ich dem Bahnhof sogar zusätzliche Besucher bescheren, die ausschließlich kämen, um meine tragische Gestalt zu bestaunen; vielleicht erlangte ich internationale Bekanntheit als Opfer meiner Schüchternheit, stünde als kuriose Randnotiz auf der Vermischtes-Seite ein paar überregionaler Zeitungen und bekäme einen kleinen Kasten im Lonely Planet («If you change trains at Hamm, Westfalia, don’t miss the crazy guy from platform ten») − aber meine zukünftige Frau hätte ich sicher nicht kennengelernt.
Glücklicherweise ergriff sie die Initiative und sprach mich mit den schönen Worten «Sag mal, fährst du auch nach Schwerte?» an; was, nebenbei bemerkt, beweist, dass sich die Geschlechterverhältnisse zwar geändert haben mögen, das Arsenal möglicher Anquatschsprüche aber auch im postfeministischen Zeitalter weitgehend dasselbe geblieben ist. Als der Regionalexpress schließlich eintraf − wir fuhren tatsächlich beide nach Schwerte −, setzte meine Zukünftige sich ungefragt auf den Platz mir gegenüber, erzählte von ihrer Doktorarbeit (über Pornographie, ausgerechnet… ich merkte, wie ich vor Scham in der Sitzbank versank) und ignorierte geflissentlich, dass ich den hochroten Kopf hinter einem Buch versteckte und so tat, als würde ich lesen. Bei unserem ersten gemeinsamen Waldspaziergang einige Monate später ließ sie sich nicht davon abschrecken, dass ich unentwegt auf den Boden starrte und jeder Nacktschnecke am Wegesrand mehr Beachtung schenkte als ihr («Oh, sieh mal, eine Arion vulgaris! »). Noch Jahre später, bei unserer Trauung, wartete sie geduldig, bis ich nach langer, peinlicher Stille endlich das Jawort hervorstammelte.
Dass wir unsere beiden Teilzüge aufs selbe Gleis setzten, ja sie nach eingehenden Stresstests sogar durch das Band der Ehe
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