Schuechtern
Austauschschüler an der amerikanischen Westküste zubringen durfte, kommt in meiner Vorstellung jenem Zustand am nächsten, den man mit Robert Musil als «Urlaub vom Leben» bezeichnen könnte. Mit einem Mal war alles anders. Auf einen Schlag war die Tafel mit Rollenzuschreibungen, die mich verbindlich als Schüchternen definierten, wie abgewischt. Ich war eine Tabula rasa, ein unbeschriebenes Blatt. Folgt man dem Soziologen Erving Goffman, so lässt sich unser Alltag, unsere gesamte soziale Interaktion als eine Theateraufführung begreifen, und unser ‹Selbst› − beziehungsweise das, was von der Gesellschaft als Selbst wahrgenommen wird − als das Ergebnis einer mehr oder minder erfolgreich verkörperten Rolle. «Eine richtig inszenierte und gespielte Szene veranlaßt das Publikum, der dargestellten Rolle ein Selbst zuzuschreiben, aber dieses zugeschriebene Selbst ist ein Produkt einer erfolgreichen Szene, und nicht ihre Ursache», schreibt Goffman in Wir alle spielen Theater . «Das Selbst als dargestellte Rolle ist also kein organisches Ding, das einen spezifischen Ort hat […]; es ist eine dramatische Wirkung, […] und der springende Punkt […] ist, ob es glaubwürdig oder unglaubwürdig ist.» Wenn Goffman recht hatte, konnte ich die Maske der Scham also einfach im Flugzeug ablegen und mein Selbst nach Belieben umgestalten. Schließlich gab es in den USA weit und breit kein Publikum, das mich in der Rolle des Schüchternen kannte. Von allen gesellschaftlichen Rollenerwartungen frei, konnte ich mich von Grund auf neu erfinden!
Zunächst lief alles nach Plan. Ich kaufte mir ein Skateboard und T-Shirts, auf denen Sprüche standen wie Life’s a Beach oder Free Your Mind and Your Ass Will Follow . Ich rieb mir Zuckerwasser in die Haare, bis sie abstanden wie der Strahlenkranz von der Stirn der Freiheitsstatue, und bohrte mir ein halbes Dutzend Löcher durch die Ohren. Ich besorgte mir eine Ratte und benannte sie nach einer Klassenkameradin. Ich bemühte mich nach Leibeskräften, mein altes, schüchternes Selbst durch den gezielten Einsatz von hartem Alkohol und weichen Drogen von meiner charakterlichen Festplatte zu entfernen, um dadurch Platz für ein neues, selbstbewussteres Ich zu schaffen.
Ich muss gestehen: Dies gelang mir nur teilweise. Zwar empfand ich es als überaus lustvoll und befreiend, einmal ein anderes «Selbst-als-Rolle» (Goffman) spielen und dafür ein neues Kostüm anlegen zu dürfen. Es half natürlich ungemein, dafür eine neue Bühne als Auftrittsort zu haben sowie ein unvoreingenommenes Publikum, das von meiner bisherigen, so wenig selbstbewussten Schauspielkarriere nichts wusste. Aber mir wurde zunehmend klar, dass ich zwar durchaus jederzeit in ein anderes Kostüm schlüpfen konnte, dass darunter aber leider Gottes immer derselbe, in seinen Ausdrucksmöglichkeiten eher beschränkte Schauspieler steckte. Beim Kiffen aus der Wasserpfeife musste ich immer husten, und wenn ich andere psychoaktive Substanzen nahm, bekam ich es meist mit der Angst zu tun, musste an den Tod des Sokrates denken und begann, die Sterbeszene aus Platons Phaidon im Original zu zitieren (« Ō Kríton, éphe, t ō Asklepi ō opheílomen alektryóna»), was meine Co-Drogisten zwar irgendwie beeindruckte, aber doch den Eindruck vermittelte, dass ich, selbst wenn ich high war, nicht so richtig loslassen konnte. Der Abstand zwischen dem, was man altmodisch-essentialistisch als mein ‹wahres Wesen› bezeichnen könnte, und dem Selbst, das ich äußerlich zu sein vorgab, blieb also weiterhin bestehen: Zwischen mir und meinem Kostüm klaffte eine unüberbrückbare Lücke − und nicht nur, weil ich Klamotten in Übergröße trug und Turnschuhe mit offenen Schnürsenkeln. Vielleicht war das Spektrum der Charaktere, die ich im Alltag glaubhaft verkörpern konnte, doch auf wenige Figuren begrenzt.
Den wohl traurigsten Beweis meiner ungebrochenen Gehemmtheit brachte eine Fahrt an den im Kaskadengebirge von Oregon gelegenen Olallie Lake, wo ich eine sommerliche Woche mit meiner Gastfamilie verbrachte. Es waren noch einige weitere Menschen dabei, an die ich mich nicht mehr erinnere − außerdem eine junge Frau, an die ich mich umso deutlicher erinnere, obwohl ich sie seit einem Vierteljahrhundert nicht gesehen habe. Wir wohnten in einer Ansammlung von Holzhütten, die Anfang des vorigen Jahrhunderts am Westufer des Sees zwischen mächtigen Douglasien und Hemlocktannen errichtet worden waren. Die Häuser waren winzig,
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