Schuechtern
spartanisch eingerichtet und ohne fließendes Wasser, und wie der Zufall es wollte, hatte ich eine Hütte für mich allein. Der Vollständigkeit sowie des pornographischen Flairs halber sei erwähnt, dass sie auch über kein elektrisches Licht verfügte und sich die Tür von innen nicht verriegeln ließ.
Michelle, so hieß die junge Frau, war zwei Jahre älter als ich, strohblond wie der Mittlere Westen, und entsprach auch sonst dem Idealbild, das ich mir im Lauf meiner humanistischen Erziehung von einem amerikanischen College-Girl gemacht hatte. Wenn sie auf dem Bootssteg am Ufer des Sees lag und sich sonnte − was College-Girls, wie ich wusste, andauernd tun, um ihrem Körper diese unvergleichliche Bräune zu verleihen −, dann wiederholte ihr Körper die von Gletschern modellierten Formen des Kaskadengebirges, und in ihrem Gesicht leuchtete das Blau des Sees. Ich lag, so oft sich die Gelegenheit bot, in gebührendem Abstand daneben, zupfte an meinem Life’s a Beach -T-Shirt herum und brachte Michelle deutsche Schimpfwörter sowie die Zahlen von Eins bis Zehn bei.
Und dann, nach Tagen des ebenso unbeholfenen wie unschuldigen Umeinanderherumscharwenzelns, passierte das Unfassbare. Es war meine letzte Nacht am Olallie Lake. Ich war nach einem langen Tag, an dem Michelle und ich zu Fuß den See umrundet und danach auf dem Bootssteg Schimpfwörter gepaukt hatten, zu Bett gegangen, lag nun wach, betrachtete die Nachbilder auf meiner Netzhaut und lauschte dem Gesang der Insekten. Da, mit einem Mal, hörte ich noch ein anderes Geräusch: ein Knistern, behutsame Schritte auf Douglasiennadeln, sie kamen langsam näher. Dann, ganz leise: ein Pochen an meiner Tür. Und wenige Sekundenbruchteile später, sehr, sehr laut: das Pochen meines Herzens! War es möglich, dass… Tatsächlich, als die Tür sich öffnete, stand niemand Geringeres als mein College-Girl-Idealbild im Rahmen. Es schien direkt aus der Platonischen Welt der Ideen herabgestiegen zu sein, um mich in seiner flüchtigen irdischen Verkörperung zu besuchen. Nur was es mitten in der Nacht in meiner Hütte zu suchen hatte, war mir durchaus rätselhaft. Es könne einfach nicht schlafen, sagte es. Ob es ein wenig dableiben und sich zu mir ins Bett legen dürfe? Na gut. Natürlich. Da lagen wir nun.
Olallie , das Wort, nach dem der angrenzende See und der nächstliegende Berg benannt sind, heißt in der Sprache der Chinook-Indianer ‹Beere›. Ich hätte die Gelegenheit, die sich mir so offensiv wie verführerisch bot, um im Bilde zu bleiben, einfach nur pflücken müssen. Carpe diem! Seize the day! Stand das nicht sogar auf einem dieser T-Shirts, die ich gekauft hatte? Aber nein, ich tat nichts dergleichen. Ich gab Michelle einen Teil meiner Decke ab, drehte mich auf die ihr abgewandte Seite, legte die Hände brav auf die Bettdecke und dachte an die Lehren der Stoa.
Die Stoiker, so wusste ich aus dem Lateinunterricht, pflegten sich nackt auszuziehen, sich mit einer schönen und ebenfalls unbekleideten Kurtisane ins Bett zu legen… und dann die ganze Nacht nichts zu tun − einfach nur, um ihre Leidenschaften zu bezähmen. Mich hatten diese Berichte immer tief beeindruckt, auch wenn die Herausforderung, die diese Situation für die Betroffenen darstellen mochte, mir durchaus fremd war. Doch nun, da ich in derselben Situation war wie einst die antiken Anhänger der Stoa (na ja, fast: Ich trug Boxershorts), musste ich feststellen, dass die Enthaltsamkeit, in der sie sich geübt hatten, gar nicht so schwer war. Im Gegenteil: Wie gern hätte ich meiner Leidenschaft nachgegeben und mich auf die Frau gestürzt, die wenige Zentimeter neben mir lag und nach Erdnussbutter duftete. Doch etwas hielt mich davon ab.
Zum einen war ich unsicher, ob Michelle mir nicht doch die Wahrheit gesagt hatte: ob sie also tatsächlich nicht einschlafen konnte und verständlicherweise empört wäre, wenn ich sie durch unbedachte Handlungen davon abhielte. Zum anderen waren wir nicht allein. Irgendwo im Dunkel des Zimmers, mal auf meiner Brust wie ein Nachtalb, dann wieder auf der hölzernen Eckbank am Ofen, saß Agentin Babajaga. Sie gab keinen Laut von sich, sie beobachtete mich nur. Manchmal schüttelte sie wortlos den Kopf, aber ob sie das tat, weil sie meine Lage moralisch missbilligte, oder weil sie meine Unfähigkeit, mit der Lage umzugehen, unverständlich fand, konnte ich nicht erkennen. Geschätzte drei, gefühlte dreißig Stunden verbrachten wir so, Michelle, Babajaga und
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