Schuechtern
miteinander verkoppelten, war also vor allem der Beharrlichkeit und Geduld meiner Frau geschuldet. Ich darf aber auch die segensreiche Rolle nicht verschweigen, die ein alter Freund von mir bei unserem Zusammenkommen spielte: nämlich der Alkohol. Bisweilen sieht man ja Menschen, meist Männer mit schwiemeligen Gesichtszügen und Schwartenbauch, die auf ihrem T-Shirt stolz den Slogan Alcohol − helping ugly people have sex zur Schau tragen. Das ist natürlich Unsinn, denn Hässliche haben in der Regel durchaus nicht mehr Probleme, einen Geschlechtspartner zu finden, als ihre vermeintlich attraktiveren Artgenossen. Schüchterne haben es hingegen ungleich schwerer, da schöne wie unschöne Menschen sie gleichermaßen in Schrecken versetzen. Der Slogan sollte daher besser Alcohol − helping shy people have sex lauten: Wenn schüchterne Menschen in Gesellschaft sind, enthemmen sie sich gern durch Getränke. Nüchtern ist schüchtern. Tatsächlich, dies ist die weniger berauschende Seite der Geschichte, sind einer amerikanischen Studie zufolge fast zwanzig Prozent aller Menschen, die unter Sozialangst leiden, alkoholkrank.
Meine Erinnerungen an die ersten Zusammenkünfte mit meiner Frau sind jedenfalls eher schemenhaft, da ich mich aus Unsicherheit immer wieder in das neblige Reich von König Alkohol verfügte. Auch als ich meiner Frau den Heiratsantrag machte, war ich ziemlich beknillert, sonst hätte ich die für solche Gelegenheiten vorgesehene Frage wohl kaum über die Lippen gebracht. Nun gut, wir wohnten damals schon seit drei Jahren zusammen, wir hatten eine gemeinsame Tochter, wir befanden uns an einem Strand, es war Nacht, die Himmelskörper standen, soweit ich das beurteilen konnte, günstig (Venus im Aszendenten, Mond voll), und ich hatte die Frage bereits im Konjunktiv, im Futur sowie im Futur II Konjunktiv durchgespielt («Was würdest du sagen, wenn ich dich fragte, ob du mich heiraten wolltest? Was wirst du sagen, wenn ich dich fragen werde, ob du mich heiraten wirst? Was würdest du gesagt haben, wenn ich dich gefragt hätte, ob du mich geheiratet haben wolltest?») − die Gefahr, eine ablehnende Antwort zu erhalten, war also relativ gering. Trotzdem: Ohne gewissenhafte Vorbereitung durch Bier und Lambig (bretonischer Apfeltresterbrand, vor Heiratsanträgen und nach schwerem Essen sehr zu empfehlen) hätte ich das nie geschafft.
Als wir schließlich den Bund der Ehe eingingen, war ich selbst für Akademikerverhältnisse ziemlich alt − stolze siebenunddreißig Jahre. Auch damit bestätige ich allerdings nur die Statistik: Das durchschnittliche Heiratsalter für Männer liegt in Deutschland derzeit bei dreiunddreißig Jahren, Schüchterne hingegen, das legen Langzeitstudien aus den USA und Schweden nahe, heiraten im Durchschnitt etwa drei Jahre später. Überhaupt brauchen Schüchterne für alles etwas länger: Sie bekommen später ihr erstes Kind (ebenfalls etwa drei Jahre), sie fassen später im Berufsleben Fuß, und sie lassen, wenn überhaupt, erst in vergleichsweise hohem Alter die Nachwehen der Pubertät hinter sich. Böse Zungen würden angesichts meiner späten Vaterschaft und Eheschließung vermutlich sagen: Das war aber auch höchste Zeit! Ich hingegen würde, mit Blick auf meine Frau und Tochter sowie mit nicht gekanntem Selbstbewusstsein, sagen: Gut Ding will eben Weile haben. Das Zaudern hat sich gelohnt.
Nennt mich Kehinde Als ich einer nigerianischen Bekannten in einem Anfall von Bekenntnisseligkeit einmal vorklagte, wie schwer und ungerecht es doch sei, ein zweiter Zwilling zu sein, tröstete sie mich mit einem Mythos aus ihrer Heimat. Wenn ich in Nigeria geboren wäre, erklärte sie mir, würde ich als der Ältere gelten, mein Zwillingsbruder hingegen als der Jüngere. Die nigerianischen Yoruba glauben nämlich, dass der erstgeborene Zwilling von seinem großen Bruder bei der Geburt vorausgeschickt wird, um erst einmal die Lage außerhalb des Mutterleibs zu erkunden. Er ist sozusagen der Vorkoster und wird daher traditionellerweise Taiyewo genannt, zu Deutsch: ‹der erste, der die Welt schmeckt›. Der Zwilling, der als zweiter geboren wird, erhält den Namen Kehinde, ‹der als Letzter kommt›, und gilt als der Ältere und Schlauere von beiden – schließlich setzt er sich, im Gegensatz zu seinem draufgängerischen Bruder, nicht überstürzt der Gefahr des Geborenwerdens aus.
Es ist wohl kaum nötig zu erwähnen, dass mich diese Umkehrung der herkömmlichen
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