Schuechtern
europäischen Geschwister-Hierarchie auf Anhieb überzeugte. Vor allem faszinierte mich der Gedanke, dass es sich bei der schüchternen Zurückhaltung, wie ich sie bei meiner Geburt an den Tag gelegt hatte, nicht um ein Anzeichen von Schwäche, sondern um eine durchaus wünschenswerte Eigenschaft handeln könnte. War es nicht ein unglaublich kluger Schachzug gewesen, meinem Bruder den Vortritt zu lassen? Wie hatte er denn wissen können, was ihn auf der anderen Seite dieser orangerot schimmernden Pforte erwartete? Wenn ich anhand seiner Schreie gemerkt hätte, dass es dort draußen nicht mit rechten Dingen zuging, hätte ich mich noch einmal umentscheiden können: Ich hätte mich einfach mit aller Kraft an der Gebärmutterinnenwand festgekrallt und… nun, zugegeben: Meine Möglichkeiten waren eher bescheiden.
In der Geschichte der Menschheit scheint ein vorsichtig-zurückhaltendes Gebaren, wie es Kehinde an den Tag legt, jedenfalls durchaus einen evolutionsbiologischen Mehrwert mit sich gebracht zu haben; wenn es sich allzu negativ auf den Fortbestand der Art ausgewirkt hätte, wäre es vermutlich schon längst aus dem Katalog der menschlichen Charaktereigenschaften verschwunden. Die Angst vor Neuem, schreibt die Psychologin Anke Lengning, «bietet einen Selektionsvorteil, da hierdurch verhindert wird, dass sich Lebewesen ungehemmt neuen Sachverhalten zuwenden und sich damit potentiell in Gefahrensituationen begeben.» Mit anderen Worten: Während der Nicht-Schüchterne in grauer Vorzeit übereilt aus seiner warmen, sicheren Höhle stürmte und schnurstracks im Magen des Säbelzahntigers landete, wartete der Schüchterne erst einmal ab, bis sich der Säbelzahntiger an dem Draufgänger satt gefressen hatte, und erledigte die Bestie dann während ihres Verdauungsschlafs. (Auch heute noch könnte ein schüchternes Verhalten, wie der Journalist Bryan Walsh anmerkt, manchmal davor bewahren, Menschenleben aufs Spiel zu setzen: Das US-amerikanische Militärdebakel im Irak etwa verdankte sich Walsh zufolge nicht zuletzt der Extrovertiertheit des texanischen Draufgängerpräsidenten George W. Bush).
Darüber hinaus stellten Gefühle wie Scham und Schüchternheit vermutlich nicht nur im Kampf gegen die Natur, sondern auch im vor- und frühmenschlichen Miteinander eine Überlebensstrategie dar. Möglicherweise, so der Psychologe Rowland S. Miller, entwickelten sich soziale Ängste aus der verständlichen Furcht heraus, von den Stammesgenossen verstoßen und so dem eigenen, als Einzelgänger in einer gefahrvollen Umwelt eher düsteren Schicksal überlassen zu werden. Scham und Schüchternheit wären demnach im wahrsten Sinne des Wortes ‹ur-menschliche› psychische Warnmechanismen, die den Menschen vor asozialem Verhalten und dem daraus resultierenden Verlust der ihn schützenden Gemeinschaft bewahrten.
Sogar Menschenaffen können ein Verhalten an den Tag legen, das an Schüchternheit gemahnt: Das Gorillaweibchen Koko, das an der Universität Stanford in Gebärdensprache unterrichtet wurde und in mehr als tausend verschiedenen Gesten kommunizieren kann, zeigte sich angeblich peinlich berührt, als es im Alter von fünf Jahren einmal mit seinen Puppen spielte und in Zeichensprache vor sich hin plapperte und dann bemerkte, dass es dabei beobachtet wurde: Koko hörte sofort auf zu spielen und drehte sich weg. Wir dürfen also annehmen, dass solche Verhaltensweisen zumindest den sensibleren unter unseren anthropoiden Urahnen nicht ganz fremd waren.
Allerdings stellt sich hier eine grundlegende Frage: Liegt dem hier beschriebenen Verhalten tatsächlich eine Charakterdisposition zugrunde, die wir − als durchzivilisierte, aufgeklärte, postmoderne Bürger der westlichen Welt − als ‹Schüchternheit› identifizieren würden? War der Frühmensch zu schüchtern, um den Anführer seiner Gruppe zum Kampf herauszufordern − oder empfand er bloß eine dumpfe Furcht vor dessen Keule? War es Koko wirklich peinlich, dass man sie beim Spielen überraschte − oder handelte es sich bei dem von ihr gezeigten Verhalten um eine nach Gorillamaßstäben vielleicht besonders sensible, aber doch mehr oder minder normale Abwehrreaktion, die in menschlichen Gefühlskategorien gedeutet wurde? Ganz grundsätzlich: Ist ‹Schüchternheit› eine überzeitliche, historisch konstante Größe?
Tatsächlich spricht vieles dafür, dass es sich bei Gefühlen wie Scham und Schüchternheit keineswegs um anthropologische Konstanten handelt, sondern dass
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