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Schuechtern

Schuechtern

Titel: Schuechtern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Werner
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sie im Lauf der biologischen und sozialen Evolution stetig wechselnden Konjunkturen unterworfen waren und sind. «Gefühle […] verändern sich in Ausdruck, Objekt und Bewertung», schreibt die Historikerin Ute Frevert. «Selbst wenn Affektprogramme in allen Lebewesen genetisch-biologisch angelegt wären, kommt es darauf an, wie sie aktiviert werden, durch welche Wahrnehmungen und Interpretationen.» Der Mensch mag also zwar seit Urzeiten dazu befähigt sein, sich zu schämen oder schüchtern zu sein. Doch ob und in welcher Form diese Eigenschaften zu Tage treten, ob sie als schädlich oder nützlich, als ehrbar oder verwerflich gelten, ob sie nach Leibeskräften unterdrückt oder im Gegenteil kultiviert werden: das alles hängt entscheidend von den je wechselnden sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen ab.
    Betrachtet man die Genealogie der Schüchternheit, so fällt auf, dass die Vorläufer dieser Gefühls- und Charakterdisposition in der abendländischen Kultur oft überraschend positiv besetzt waren. Das altgriechische Wort aidós etwa, das in deutschen Übersetzungen oft mit ‹Schamhaftigkeit› oder ‹Scheu› wiedergegeben wird, meinte zwar, wie der Philosoph Jürgen Ruhnau schreibt, durchaus ein Gefühl, «das die Tendenz hat, einen Handlungs- oder Redeimpuls zu hemmen, um möglichen Tadel und damit Minderung des Selbstwertgefühls zu vermeiden». Doch schwangen in seinem semantischen Resonanzraum noch eine Vielzahl weiterer Gefühlsnuancen mit, die unserem heutigen Verständnis von Schüchternheit eher fremd sind: zum Beispiel Ehrfurcht (vor Göttern, Priestern oder Eltern), Ehrgefühl (gegenüber Freunden) oder Mitleid (mit Hilfsbedürftigen).
    In der Ilias bezeichnet aidós die Scheu des adligen Menschen, «etwas zu tun, was häßlich […] ist», dem Dichter Hesiod galt es als allgemeines Gefühl für Recht und Anstand, und Platon erhob es geradezu zur emotionalen Grundlage für tugendhaftes Verhalten, ja für die Möglichkeit sozialen Zusammenlebens überhaupt: Wenn die Menschen nicht allesamt schamhaft wären, lässt er den Göttervater Zeus im Dialog Protagoras verkünden, dann könnte es «nie […] zum Bestehen von Staaten kommen»; wer unfähig ist, Scham zu empfinden, den solle man töten wie «ein Geschwür am Leibe des Staates». Erst ihre Schamhaftigkeit befähigt die Menschen zu respektvollem gesellschaftlichen Miteinander: Aidós steht damit in einer Reihe mit Selbstbeherrschung, Mäßigung und Anstand. Kein Wunder, dass auch Platons Schüler Aristoteles diesem Gefühl, als «Angst vor der Minderung des guten Rufs», eine wichtige Stellung auf dem Weg zur Tugendhaftigkeit zuweist − allerdings ausschließlich für Jugendliche, da diese in «der Leidenschaft leben und daher vielfach falsch handeln, durch die Scham-Empfindung aber davor bewahrt werden können». Aristoteles meint mit aidós also eine Art pädagogisches Korrektivgefühl, das den Menschen von verwerflichen Handlungen abhält, solange er noch nicht aus Einsicht und sittlicher Reife das Richtige tut.
    Auch von den Philosophen der Stoa wurde aidós, als «sittliche Scheu vor gerechtem Tadel», zu den positiv bewerteten Emotionen gezählt − allerdings wurde es nun scharf von dem auf den ersten Blick ganz ähnlich gelagerten Gefühl der aischýne unterschieden. Die aischýne galt den Stoikern als irrational, als unkontrollierbar, als eine Leidenschaft, die den Menschen von vernünftigen Entscheidungen abhält. Sie wurde zu den Arten der Furcht gerechnet und stellte mithin eine empfindliche Schwäche dar, eine Krankheit der Seele, die der gute Stoiker nach Kräften überwinden sollte. Während der Begriff aidós die sozial erwünschten Seiten der Schüchternheit hervorhebt, betont aischýne eher ihre negative, pathologische Ausprägung: In seinem Bedeutungsmoment der Furchtsamkeit gemahnt der Begriff an unser modernes Verständnis der Sozialphobie.
    Welche dieser ungleichen Schwesteremotionen war es nun, die mich damals, in jener so schlaf- wie ereignislosen Nacht am Olallie-See, von Annäherungsversuchen an die Dame unter meiner Decke abhielt? Blieb ich so ‹stoisch› auf meiner Matratzenseite liegen, weil ich von gesunder sittlicher Scheu erfüllt war − oder einfach nur, weil ich krankhaft-irrationale Angst hatte? Hätte mich ein Vertreter der Stoa, deren viertelverdaute Lehren ich damals in meinem verwirrten Kopf bewegte, aufgrund meines Verhaltens eher gelobt oder eher getadelt? Ich vermute, beides: Er hätte mir

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