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Schuechtern

Schuechtern

Titel: Schuechtern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Werner
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unserer Mobiltelefone getippt – mit unseren Mitmenschen kommunizieren.
    Quid fit? Was geht?
    Frequentasne hunc locum? Kommst du öfters hierher?
    Visne saltare? Hast du Lust zu tanzen?
    Da mihi sis cervisiam. Bitte ein Bier.
    Natürlich ist diese Verknüpfung von Schüchternheit und Schriftlichkeit nicht auf meinem bescheidenen Mist gewachsen, sondern vermutlich so alt wie die Schüchternheit selbst. Ihre Geschichte beginnt mit der Moderne, namentlich mit Jean-Jacques Rousseau, der einmal über den Ursprung seiner Existenz − seine Mutter starb kurz nach der Entbindung − in vollendeter Selbstnegation urteilte: «Nach zehn Monaten wurde ich krank und schwächlich geboren, kostete meiner Mutter das Leben, und meine Geburt war mein erstes Unglück.»
    Tatsächlich scheint Rousseau, zumindest wenn man seinen autobiographischen Schriften Glauben schenken möchte, ein überaus schüchterner Mensch gewesen zu sein. So attestiert er sich selbst eine «angeborene Schüchternheit» sowie ein «zaghafte[s] Gemüt», bezeichnet sich als «blöde[n] Liebhaber» und beklagt, dass «Scham oder Schüchternheit» ihm immer wieder unversehens «Lügen eingeben, die wegen der dringenden Notwendigkeit einer sofortigen Antwort meinem Willen sozusagen vorauseilen». Da seine zurückhaltende Natur ihn vom Formulieren schlagfertiger Antworten abhält, flüchtet sich Rousseau bei Gesprächen notgedrungen in Unaufrichtigkeiten und Ausreden − vor allem aber flieht er mit zunehmendem Alter immer mehr in die Schrift. «Wie wird er […] dem Risiko der unvorhergesehenen Rede entkommen?», fragt der Literaturwissenschaftler Jean Starobinski: «Jean-Jacques zieht es vor, abwesend zu sein und zu schreiben . Paradoxerweise wird er sich zurückziehen, um sich besser zeigen zu können. Er wird sich dem geschriebenen Wort anvertrauen.»
    Nur im kontrollierten, distanzierten Medium der Schrift, schreibt Rousseau in seinen Bekenntnissen , habe er sich so äußern und darstellen können, wie er «in Wirklichkeit» ist. In diesem Medium war es ihm sogar möglich, sich zu Leidenschaften zu bekennen, die er zeitlebens Frau, Freunden und Liebhaberinnen gegenüber verheimlichte – nicht zuletzt seine masochistische Neigung, welche er auf die Prügelstrafen zurückführte, die er als Knabe von der Hand seiner Katechismuslehrerin empfangen durfte: «So habe ich mein Leben damit verbracht, an der Seite der Wesen, die ich am meisten liebte, zu begehren und zu schweigen.»
    Bezeichnenderweise postulierte der Philosoph auch in seinen theoretischen Schriften, dass der Mensch von Natur aus ein unsoziales Wesen sei und nur außerhalb der Gesellschaft «frei, gesund, gut und glücklich» sein könne. In dem von Rousseau im zweiten Discours entworfenen vorhistorischen Naturzustand existiert kein Bewusstsein von Gut und Böse, Laster und Tugend, Mein und Dein und daher auch kein nagendes Gefühl des eigenen gesellschaftlichen Unwerts. Die Menschen, die in diesem im besten Sinne ‹asozialen› Zustand lebten, hatten Rousseau zufolge «keinerlei Umgang miteinander» und kannten folglich «weder Eitelkeit noch Ansehen, weder Wertschätzung noch Verachtung»: Sie waren sich ihrer selbst so wenig bewusst wie ein kleines Kind, das sich noch nicht durch die Augen seiner Mitmenschen betrachtet, und waren mithin auch noch nicht zur peinigenden, selbstaufmerksamen Schüchternheit fähig. Erst durch die zunehmende Vergesellschaftung seien die Menschen «schwach» und «furchtsam» sowie von den Blicken und Meinungen ihrer Umwelt abhängig geworden: «Der Wilde lebt in sich selbst; der gesellschaftliche Mensch ist immer außerhalb seiner selbst und weiß nur in der Meinung der anderen zu leben; und er bezieht sozusagen allein aus ihrem Urteil das Gefühl seiner eigenen Existenz.»
    Im Zeitalter des Sturm und Drang sowie der Romantik erfuhr diese Glorifizierung der kindlich-wilden Einfachheit und Schlichtheit ihren Höhepunkt – und parallel dazu erhielt auch die Schüchternheit beziehungsweise Blödigkeit im deutschsprachigen Raum eine neue, bedeutende Rolle: «Den kindlichen Charakter, den das Genie in seinen Werken abdrückt, zeigt es auch in seinem Privatleben und in seinen Sitten», so Friedrich Schiller in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung : «Es ist schamhaft , weil die Natur dieses immer ist […]. Es ist bescheiden , ja blöde, weil das Genie immer sich selbst ein Geheimnis bleibt.» Ein blödes Betragen wurde nun zunehmend zum positiv

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